Münchner Friedensbündnis   misstraut der Kriegspropaganda!

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Roadmap & Roadblock Teil 1, Teil 3

Günter Wimmer, Roadmap & Roadblock, Teil 2


ISM International Solidarity Movement .

Das sind Menschen aus vielen Ländern, darunter besonders viele aus den Vereinigten Staaten, die zusammen mit israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten unter-schiedliche gewaltfreie Protestaktionen organisieren und auch selbst durchführen. Diese ISM stellen sich – auch wörtlich – vor Entrechtete. Das "kommt nicht gut an" in einem Staat, der stolz darauf ist, "die einzige Demokratie im Nahen Osten" zu sein, gegenüber Palästinensern aber Menschenrechte seit Staatsgründung außer Kraft gesetzt hat2.
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 2 Dazu gibt es viele Belege und klare Aussagen, gerade von Menschen, die für Gerechtigkeit und Versöhnung eintreten. Von jüdisch-israel. Seite z.B. von der Rechtsanwältin Felicia Langer, vom Schriftsteller und Gush-Shalom-Gründer Uri Avnery, von Reuven Moskovitz (der zusammen mit der arabischen Israelin Nabila Espanioly am 1.9.03 mit dem Aachener Friedenspreis geehrt werden wird), von der Journalistin Amira Hass (lebte in Ramallah, nun in Gaza), und von vielen weiteren. Und von palästinensischer Seite: Neben der auf dieser Seite oben zitierten Sumaya Fahrhat-Naser etwa auch die christlichen PalästinenserInnen Faten Mukarker und Mitri Raheb (Pfarrer an der Weihnachtskirche in Bethlehem) Für alle gilt: Siehe Literaturhinweise S. 55
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Die internationalen Stimmen, die die für die Versöhnung eintretenden Israelis und Palästi-nenser unterstützen und das Unrecht auch "draußen", in ihren Heimatländern bekannt zu machen versuchen, sollten, meint offensichtlich die israelische Regierung, zum Schwei-gen gebracht werden. Die – makaber – buchstäblichen "Schüsse vor den Bug" wie bei Brian Avery und Tom Hurndall (s.S. 2 oben; im übrigen wurden auch Journalisten schon getötet) reichten offensichtlich nicht. Wobei die vielen internationalen Proteste der israeli-schen Regierung doch sehr unangenehm waren! Sie legte also in anderer Form nach: Seit Anfang Mai d.J. haben alle Ausländer, die in den Gazastreifen reisen, einen Passus zu unterschreiben, dass das Militär für keinerlei Vorkommnisse Verantwortung übernimmt, der Tourist, Journalist etc. immer selbst schuld ist (Wir nennen es ein permit to kill!). Und am 9.5.03 (am 10.5. wollten wir dort hin) wurde in Beit Sachur bei Bethlehem die Zentrale der ISM von israelischem Militär gestürmt, wurden drei Frauen festgenommen, eine davon unmittelbar aus dem Land ausgewiesen, wurden Computer, Software und Unterlagen beschlagnahmt3.
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3  Zur Vermeidung von Missverständnissen: ISM hat sich nach einigen Tagen von dem Schlag erholt, ist nicht nur weiter und erneut verstärkt aktiv, sondern auch wieder erreichbar! www.freepalestinecampaign.org und www.palsolidarity.org. Und ebenfalls erfreulich: Inwischen wurde bekannt, dass am 2.5.03 der kanadische Parlamentsabgeordnete und Vertreter für Menschenrechte der dortigen Neuen Demokratischen Partei dem Nobel-Preis-Komitee ISM für den FriedensNobelPreis vorge-schlagen hat. Sehr hilfreiche ISM-Adresse in Berlin und auch sonst sehr informiert: Heidini@gmx.de
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Eine Reise in ein solches Krisengebiet verlangt "Sicherungen" (aber keine falsche Sicherheitsideologie!) und Improvisation. Wir hatten von zuhause schon weitere mögliche An-laufstellen notiert, nahmen also Kontakt auf mit dem

IWPS International Women’s Peace Service – Palestine,

um uns auf diesem Weg in die dortigen Friedensaktivitäten einzugliedern. Sie haben in Haris (Schreibweisen z.B. auch Hares, Harith) südwestlich von Nablus ihr Büro und Wohn-/Schlafräume (Der Gemeinderat hatte IWPS eingeladen und der Bezirk Salfit hat sie offiziell gebeten zu kommen: Sie bilden für das Dorf gleichzeitig einen wenigstens relativen Schutz vor Übergriffen des israel. Militärs). Insbesondere per Internetanschluss werden Informationen eingeholt und in alle Welt gegeben – Auch wenn wir z.B. erleben mussten, wie mühsam das auch für sie ist: Wie "eingefahren" ein westlicher Journalist am Telefon trotz kompetenter und geduldiger Informationen durch Karin (der regionalen IWPS-Sprecherin) seine allzu "klare" Meinung aufrecht erhielt hinsichtlich der doch "so gewalttätigen Palästinenser und dass sie einfach Frieden geben sollen".

Wie wir immer wieder feststellten: Die vier Frauen aus Österreich (Karin), Südafrika, Ka-nada und USA leisten eine bewundernswerte Arbeit4. Sie unterstützen Projekte in Regio-nen, die Menschenrechtsverletzungen und anderer massiver Gewalt ausgesetzt sind (z.B. wenn immer wieder Siedler südöstlich von Nablus Palästinenser auf ihren Feldern angreifen, versuchen sie zu vermitteln etc.), entwickeln und vermitteln gewaltfreie Konfliktregelungsmethoden. Und sie unterstützen gewaltfreien Widerstand der Bevölke-rung, tatkräftig u.a. auch das Mas‘ha-Friedens-Camp.

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  4 www.womenspeacepalestine.org , iwpseurope@gmx.net. Wöchentliche IWPS-Berichte können erbeten werden mit leerem Mail an iwps-berichte-subscribe@lists.riseup.net. IWPS ist unabhängig und gleichwohl bzw. gerade deshalb auf Spenden angewiesen (Spendenkonto in Deutschland: IWPS-Palästina, Hypobank BLZ 73311600, Kto. 0340935018)!
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Blick vom Rand des Mas‘ha-Friedens-Camps über den Streifen,

auf dem die sog. Sicherheitsmauer gebaut wurde und inzwischen fertiggestellt ist (S. 12 f):

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Mas‘ha-Friedens-Camp

gegen die seit Juni 2002 im Bau befindliche, an manchen Stellen (insges. ca. 150 km) schon fertige, an anderen erst projektierte, oft weit innerhalb Palästinas verlaufende sogenannte

"Security-Wall", "Sicherheitsmauer"

(seltener auch Security-Fence bzw. Sicherheits-Zaun genannt).

Palästinenser, Israelis und Internationale machen durch ihre gemeinsame Dauerpräsenz auf einem Hügel beim Ort Mas’ha (ca. 26 km ostnordöstlich vom Zentrum Tel Avivs) an einer der Stellen, wo die angebliche "Security-Wall" gerade gebaut wird, gemeinsam deutlich: Die das Land schlangenartig zerschneidende neue "Grenze", an dieser Stelle 6 km östlich der "Grünen Linie", also auf palästinensischem Gebiet, ist ein weiteres tiefes Unrecht (Die Grüne Linie wurde 1949 von den UN als Waffenstillstandslinie bestimmt, grenzt israelisches Staatsgebiet von dem den Palästinensern vorbehaltenen Gebiet ab). Minister-präsident Scharon spricht explizit davon, dass es keine Grenze ist. Eine wirkliche Grenze würde im übrigen auf der anderen Seite Autonomie von der bisherigen Besatzungsmacht bedeuten. Jedenfalls beeinträchtigen die neuen in mancher Hinsicht faktischen Grenz-anlagen schon während des Baus das bereits bisher so unvorstellbar eingeengte Leben der Palästinenser massiv zusätzlich. Sie werden, wenn sie fertig sind, viele Lebens-bezüge gänzlich unmöglich machen. Israelis im Camp nennen sie Apartheid- oder Separation-, ja auch Transfer-Wall: Sie trennt, besiegelt zusätzlichen Landraub und schnürt das Leben zusätzlich ein, soll zum "freiwilligen" Auswandern zwingen (Euphemis-mus "Transfer"). Die meisten Israelis glauben jedoch, es werde nun nur einfach die Grüne Linie sicher, weil undurchlässig gemacht. Bemerkungen zur Sicherheit später, zunächst zum Verlauf des Zaunes: Die "Security-Wall" verläuft jetzt schon bis 8 km entfernt in der kleinen Westbank (Nord-Süd-Länge nicht mal 130 km, Breite max. 55 km), und soll sich gar bis 20 km tief hineinfressen (siehe Karten).

Sie soll, wenn fertiggestellt, nach etwas älteren Angaben "wohl ca. 365 km" lang werden. "LE MONDE diplomatique" berichtete in ihrer Ausgabe Juli 2003 S. 13 von 650 km, die "taz" am 10.7.03: "Inoffiziell sollen bis zu 700 km geplant sein – beinahe die doppelte Länge der alten Grenze". Anhand einer Karte – also ohne die kleineren Kurven erfassen zu können – und mit Faden kam ich auf 600 km, zu denen noch eine erhebliche Gesamtlänge der Einzäunungen der zusätzl. Enklaven kommt. Diese Apartheid-Wall würde den Palästinensern

á nicht "nur" lediglich 42 % (!) des ohnehin kaum lebensfähigen Westjordanlandes lassen (das schon jetzt nicht einmal mehr 23 % des ursprünglichen Palästina ausmacht! Sh. S. 11), sondern

á gerade ertragreichere Ackerböden und wertvolle Olivenhaine konfiszieren (der Westrand des galiläischen Hügellandes ist aus geologischen Gründen fruchtbarer als viele andere Flächen),

á ebenso das in diesem Land so besonders knappe Wasser buchstäblich abgraben, d.h. über 30 Quellen durch den Zaun vereinnahmen,

á den ohnhin "aus militärischen Gründen" längst fast unmöglichen Zugang zum noch frucht-bareren Jordantal gänzlich verhindern, genauso den Zugang zu ihrem Teilstück des Toten Meers ("dafür" profitieren Israelis und Jordanier vom so dringend nötigen Tourismus alleine),

á bisherige Straßen einfach unterbrechen, als ob man das Geld für Straßenneubau und die Zeit für die dann viel längeren Wege hätte (Schon jetzt erzählte mir ein zuverlässiger Mann in Jenin: Sein Arbeitsweg ist nur innerhalb der Westbank und an sich 5 km lang; unabhängig von dem an jener Stelle noch nicht fertigen Zaun musste er je nach Situierung beweglicher Jackkpoints und dann Schließung der Straßen auf komplizierten Ausweichstrecken über Feldwege auch schon 70 km weit fahren ...)

á die zwischen Jerusalem und Jericho zusammentreffende Nord- und Süd-Westbank dann voneinander trennen, also in zwei noch kleinere Homelands verwandeln,

á zusätzlich 13.000 Palästinenser in 16 kompletten Dörfern westlich des Zaunes von ihren Landsleuten trennen (niemand weiß, was mit ihnen geschieht (z.B. Schulwege, Arzbesuche, Einkaufen...),

á auch 13 Palästinenser-Dörfer durchschneiden,

á nicht genug damit: zusätzliche noch kleinere Enklaven bilden.

Ich schrieb "würde". Immerhin hat offenbar sogar die Regierung Bush verstanden, dass dies nicht weiter realisiert werden darf. Aber Scharon drängt offensichtlich wie ein Panzer weiter in diese Richtung ... Wer wird ihm Einhalt gebieten?

Zur Karte auf der 3. Umschlagseite: Soweit die Anlagen nicht schon fertig sind und der Mauer- und Zaunverlauf nicht schon durch entsprechende Arbeiten eindeutig ist, basiert die Karte auf z.B. Enteignungsverfügungen des israelischen Militärs an Landwirte. Erfahrungsgemäß werden Begehrlichkeiten von Siedlern etc. in die Planungen noch laufend eingearbeitet.

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Idylle: Das Mas’ha-Friedenscamp (Seit Anfang April 03. Drei größere Versorgungs- und ggf. Schlafzelte, Schlafplätze aber meist um den Feuerplatz) liegt auf einer locker mit Olivenbäumen bewachsenen Hügel-Kuppe. Vom Ort Mas’ha geht es ca.10 m runter und ca. 80 m hoch. In alle Himmelsrichtungen weite Sicht über palästinensisches, durch Olivenbäume auf trockenen Böden hellbraun-grünes Hügelland. Nach Westen zwischen ei-nigen fruchtbareren Hügeln Sicht leicht runter in die in Israel liegende, von Tel Aviv nach Haifa ziehende Scharon-Ebene.

Zu den wunderschönen Erlebnissen gehört ® auch das Zusammensein gemeinsam mit Is-raelis und Palästinensern, letztere mehrheit-lich aus der unmittelbaren Umgebung. Die Israelis im Camp kommen aus Tel Aviv und anderen Städten und Dörfern. In die Westbank herein fahren sie mittels Siedlerbussen in die (Mas‘ha nächstgelegene) israelische Siedlung Elkana, gehen dann über einen Road-block (s.S. 21) auf den Hügel.

Exkurs zu "Autonomie" und Siedlungen, wobei beides wahrlich nicht idyllisch ist: Die ganze Gegend ist nach Oslo-Verhandlungskriterien Zone C, d.h. – obwohl Palästinensern gehörend – unter voller israelischer Verwaltung. Das heißt wiederum z.B., dass Palästinenser außer-halb der Ortschaften auf ihrem Land keinerlei Baugenehmigung erhalten, dass der Brunnen-bau auch in den Dörfern etc. in der Regel blockiert wird etc. Kurzzeitig waren Städte und auch einige ländliche Gegenden – Zone "A" – unter voller palästinensischer Verwaltung. Und die meist um "A" herumliegenden "B-Zonen" waren ursprünglich so definiert, dass die Sicherheitsaufgaben den Israelis obliegen und alle sonstige Verwaltung den Palästinensern. In die Zonen A und B dürfen Israelis von ihrer Regierung aus "aus Sicherheitsgründen" nicht gehen. Der tatsächlich wichtigere Grund ist zweifellos, dass sie nicht sehen sollen, wie sich ihr Militär dort verhält und wie schlecht es den meisten Palästinensern geht. Entsprechend sollen Israelis auch nicht in die Zone C gehen, sofern sie nicht zu einer israelischen Siedlung oder – die sind vielfach weitestgehend Schlafstädte – von dort nach Israel zur Arbeit fahren. Die Siedlungen entstehen i.d.R. "wild" dadurch, dass "Siedler" ein Stück Land – meist mittels Wohncontainer und Stacheldrahtbewehrung darum herum – buchstäblich besetzen. Von den hier dann so großzügigen israelischen Behörden werden sie ganz häufig bereits nach wenigen Tagen "legalisiert" (gemäß internationalem Recht bleiben sie illegal! Aber das stört zu wenige Menschen. Und etwa derzeit bei den Auseinandersetzungen um die "Roadmap", den Friedensplan des "Quartetts" USA + Russland + EU + UNO, wird suggeriert, es gebe neben den (wenigen noch nicht behördl. anerkannten, insofern doppelt) illegalen auch legale Siedlungen... Zu Siedlern siehe auch S. 49

Die sich mit den angeblich so gefährlichen Palästinensern solidarisierenden Israelis benötigen für ihre Besuche im Camp gegenüber der eigenen Bevölkerung, oft gegenüber den eigenen Verwandten also erhebliche Zivilcourage (s. z.B. Chaim S. 53). Jeden Tag seit März sind dennoch mindestens einige Israelis da (insges. schon bis Mitte Mai über 1000), viele schon mehrmals und einige regelmäßig. Wozu? Mit Palästinensern reden, sich kennen und dann oft schätzen lernen (in diesem Land gar nicht selbstverständlich und so notwendig), gemeinsame Beratungen wie etwa Vorbereitung des Nakhba-Tages (s.S.13); eher abends, wenn es kühler wird, auch gemeinsame Spiele (leidenschaftlich z.B. ein lebhaft-lustiges Ballspiel). Vor allem aber: Präsent sein, die Palästinenser vor den Soldaten und Siedlern schützen (sie sind sonst wie vogelfrei). Und deutlich machen, wie einer sagte: "The so called security-wall is a crime", ist ein Verbrechen.

Ernst der Situation: Die Hügelkuppe und das westl. Gelände gehört der Familie eines jungen Palästinensers im Camp; ihr Land wird dann für sie unzugänglich sein. 32 Groß-familien in Mas’ha sind betroffen. Mehr als 2/3 des gesamten zu Mas’ha gehörenden Landes sind dann nicht mehr erreichbar. Wie soll die ohnehin wirtschaftlich schwer ange-schlagene Bevölkerung (dazu gleich unten) dann weiter überleben? Manche Ortschaften verlieren durch die neue Barriere gar 98 % ihres Anbaugebietes. Und in einem Punkt wendet die israelische Verwaltung altes arabisches Recht zynisch-"korrekt" an: Land, das drei Jahre nicht bebaut wurde, verfällt. So wurde schon viel Land endgültig enteignet, nachdem Siedler sich in der Nähe festgesetzt hatten und dann den Palästinensern den Zugang zu ihren Anbauflächen verwehrten, weil sie sich durch sie angeblich bedroht fühlten, wenn diese etwa ihre Äcker bestellen oder die Olivenbäume pflegen oder ernten wollten.

Ich sagte: Der Ort war schon vor dem Bau der Mauer schwerst getroffen: Mas‘ha und das östl. benachbarte Biddiya (das allerdings durch den Zaunbau nicht so stark betroffen ist) waren überregional wichtige Märkte. Auch viele israelische Siedler kauften dort bei ihren Durchfahrten gerne preiswert ein. Ebenso: Israelis aus dem "Kernland" kamen eigens über die Grüne Linie. Hebräische Schriftzeichen an vielen, vielen nun leeren Geschäften und Verkaufsständen belegen es noch. Aber die vor 3 Jahren gebaute nur von Siedlern und Ausländern zu befahrende neue, schnelle Straße etwa parallel zur alten, aber abseits der Orte, "erlaubte" es dem israelischen Militär, den Personen- und Güterverkehr auf der bisherigen, für die Palästinenser insofern nun einzig erlaubten Straße durch Roadblocks (S. 21) massivst zu behindern. Das entzieht den Geschäften damit sämtliche israelische Kunden und auch sehr viele palästinensische. Das ließ den Ort veröden, zwang bereits vor dem "Mauerbau" viele Bewohner auszuwandern. Von ca. 7.000 leben nur noch ca. 2.000 Einwohner in Mas‘ha. Der "Transfer" (euphemistisch für diese Form der "leisen" Vertreibung) findet also hier wie in vielen palästinensischen Regionen längst statt, es gibt nur keinen Aufschrei in Europa oder USA. Neben dem persönlichen Leid der Menschen finde ich schlimm: Die Politik der israelischen Regierung "funktioniert" (insofern!), Scharon etc. fühlen sich durch die – aber in weiten Teilen ihrer Bevölkerung und der Welt gar nicht oder nicht als massives Unrecht wahrgenommenen – Transfer-Erfolge auf ihrem Weg bestätigt.

Noch eine Facette: Der einzige Brunnen in Mas’ha wurde von israelischem Militär zubetoniert (Dient es der Sicherheit, dass nun Wasser teuer gekauft werden muss???).

Östlich halbrund um das Friedenscamp nur 30 m weg wurde die 40 m breite klaffende Schneise für die "Securitywall" durch das biblische Land geschrammt. "Kann, wer sein Land wirklich liebt, ihm so etwas antun?" Transparente und Infotafeln im Friedenscamp verdeutlichen die gesamte Mauer-Problematik. Siehe S. 7, 9 u.12. Zu einem Aspekt ergänzend: Die getrennten Nachbarn sind dann zwischen der Grünen Linie und der zweiten "Grenze" eingezwängt. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen wird. Meldungen im Mai 03 sagten, es werde sogar noch ein zweiter "Wall" unmittelbar an der "Grünen Linie" gebaut, so dass diese angestammten arabischen Gemeinden dann in dem unter-schiedlich breiten Streifen zwischen der dann nicht mehr "grünen" (heißt eigentlich offenen) Linie und dem "Sicherheits-Wall" ihrerseits gänzlich gefangen sind. Erinnerun-gen an die 1948 und in den Folgejahren zerstörten fast 400 alten arabischen Siedlungen im nunmehrigen Israel werden aktualisiert. Versprechen hinsichtlich zu bestimmten Zeiten geöffneter "Gates" (wie S. 1, jenes ist nordwestl. von Jenin) werden angesichts der schon bisherigen vielen Lügen der Scharon-Regierung nicht geglaubt.

Scharon hat v.a. im vergangenen Wahlkampf Siedlern noch viele Zugeständnisse ge-macht, also den damals projektierten Verlauf der neuen Grenzbefestigung nach Osten verschieben lassen. Trotz – aus angeblichen Sicherheitsgründen – großzügiger Miteinbe-ziehung von israelischen Siedlungen werden dennoch 80 % der seit 1967 errichteten Siedlungen weiterhin eingesprenkelt im dann eingesperrten palästinensischen Land liegen. Israelis werden an bestimmten Toren die Grenze problemlos passieren können. Aber erneut: Geht es um Sicherheit? Wenn die Sicherheit des israelischen "Kernlandes" angeblich dieser Grenzanlagen bedarf und trotz Zäunen etc. um die Siedlungen bisher schon auch dort manchmal Attentate verübt worden sind! Wobei auch da meist Provokationen, also z.B. Beschießung von Palästinensern durch Siedler vorausgegangen waren.

Ich habe vom weiten Blick vom Hügel geschwärmt. Ich sah dabei auch vier palästinen-sische Dörfer und – selbstverständlich ohne die Ortschaften im israelischen "Kernland", hier also unten in der Scharonebene, zu zählen – 14 (vierzehn!) israelische Siedlungen. Nicht überall ist das Zahlenverhältnis so extrem wie hier.

Aber: Es ist bereits Frucht langjähriger systematischer Landnahme. Bei Beendigung des britischen Mandats 14.5.1948 befanden sich 94 % der Gesamtfläche Palästinas, d.h. des ent-sprechenden Mandatsgebietes in arabischen Händen, der Rest war von Juden abgekauft5. Der Teilungsbeschluss der UN 29.11.1947 wollte ihnen nur noch ca.43 % lassen, was sie als massiven Eingriff sahen: Zusätzlich zum verbreiteten Antizionismus Anlass zu dem unglückseligen und letztlich gescheiterten Angriff von arabischen Ländern und Palästinensern am 15.5.1948 (S. 14/15). Also unmittelbar nach der israelischen Staatsgründung mussten Juden wieder um das Überleben kämpfen, konnten – von Beginn an gut gerüstet – nach Anfangs-verlusten bald erheblich "Boden gewinnen". Was im Waffenstillstandsbeschluss zur Grünen Linie führte und damit nur noch 23 % des Gesamtgebietes für Palästina beließ. In diesem Krieg wurden 750.000 (3/4 der) Palästinenser vertrieben oder flüchteten aus ihrer alten Heimat, dem neuen Staat Israel (Die übrigen sind formalrechtlich gleichgestellt, aber faktisch vielfältig und zum großen Teil massiv benachteiligt. In diesen Zusammenhang [bis wohl 1953] gehört u.a. auch die Zerstörung bzw. z.T. Konfiszierung von 10 Städten und ca. 370 der ca. 500 arabischen Dörfer etc. (siehe auch S. 15). Seit dem 3. Nahostkrieg, dem Sechstagekrieg 5.-10.6.1967, ist das Westjordanland mit nur kurzen Ausnahmen besetztes Gebiet mit nicht "nur" erheblichen Bewegungseinschränkungen, sondern weit überzogenenen Militäraktionen und inzwischen eingestreuten mehr als 200 israelischen Siedlungen.
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5 Nicht „nur” bei der Vertreibung, selbst bei regulärem Kauf des Landes durch die meist fernen Scheichs etc. wurde den dort lebenden Palästinensern Unrecht angetan: Israelis wollten – einerseits verständlich – dann das Land „für sich”, während Araber bis dahin bei Land-Besitzwechsel jeweils dort auf „ihrem” Heimatboden hatten verbleiben und weiter anbauen etc. können. Hier prallte ein neues Rechtssystem auf ein altes ...
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Und nun also sollen vom verbliebenen Rest (ohnehin schon längst nicht mehr 23 % des ursprünglichen Gebietes der Palästinenserauch) wiederum nur noch 42% (siehe Seite 9) den Palästinensern verbleiben! Selbst wenn man den Land-Gewinn Israels durch den ersten Verteidi-gungskrieg als Risiko-Verlust der Araber einstuft und obwohl Sicherheitsinteressen aller Menschen und Staaten ernst genommen werden müssen: Es sollte unzweifelhaft sein: Den Palästinensern muss zumindest ihre Westbank und der Gazastreifen ohne jeweils einge-sprengte israelische Siedlungen und ohne Mobilitätsbeschränkungen zur Verfügung ste-hen, sie müssen sich (wie in den umfassenden 80 Thesen von Gush Shalom z.B. ebenfalls längst erarbeitet) auch zwischen beiden Teilen – Westbank und Gaza – auf einem sicheren Korridor (kreuzungsfreie Straßenverbindung) ungehindert bewegen können. Selbstverständlich muss ihnen damit auch der Jordangraben und der ihnen ebenfalls – eigentlich – gehörende Teil des Toten Meers frei zugänglich und zu nutzen sein. Damit im übrigen auch der Grenzübergang nach Jordanien (dabei wiederum u.a. der ungehinderte Zugang zum internationalen Flughafen Amman). Bislang, höre ich, sind auch dort die Schikanen des israelischen Militärs bis in die allerjüngste Zeit hinein ungeheuerlich (so berichtete z.B. im Juli 2003 ein von einer Friedenstournee in Europa zurückkehrender palästinensischer Künstler (schon die Ausreise war eine Zitterpartie) von stundenlangem Warte-Aufenthalt am Checkpoint in sengender Sonne im nicht mit Klimaanlage ausgestatteten Bus. Kinder schrien, andere wimmerten nur noch ...)

Zurück zum Ort Mas’ha: Zu den langjährigen Erfahrungen der meist entschädigungslosen Landverluste, Behinderungen und Demütigungen kam vor wenigen Jahren die Vernich-tung des überregionalen Marktes und der zubetonierte Brunnen – und nun also auch noch der Zaun mit allen Folgen.

Die Kosten dieses Zauns und der Mauer sollen nach frühen Schätzungen über 300 Mio US-Dollar betragen. Inzwischen, da die israelische Bevölkerung diese "Investition" weit überwiegend als notwendig ansieht, rutschen die Zahlen hoch (So schrieb LE MONDE diplomatiqe im Juli von 1,2 Mrd. €. Gebaut wird er von israelischen Firmen mit überwie-gend palästinensischen Bauarbeitern, die sich also selbst "das Gefängnis bauen", weil sie angesichts der Arbeitsmarktsituation und Not froh sind, wenigstens jetzt etwas zu verdienen ...

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Während wir im FriedensCamp waren wurden noch ¬ Gräben für das Betonfundament aufgerissen, Felsen weggesprengt, das tief gründende, ca. 40 cm über Niveau ragende Mäuerchen betoniert, auf dem der Drahtzaun befestigt wird.

Inzwischen, erfuhren wir, ist die Grenzanlage an "unserem" Hügel fertig, wie ich sie nordöstlich von Jenin bereits gesehen habe (siehe S. 1), wie sie etwa auch bei Tulkarem schon existiert: Von palästi-nensischer Seite aus gesehen ... (wobei doch auch das Land dahinter noch Palästina ist! Wie beschreibt man eine wahrlich verrückte Situation? Einfach "von Osten aus" kann ich auch nicht sagen angesichts der üppigen Kurven, die dieser lebens-feindliche Streifen durch das Land zieht). Also nochmals: Von der Westbank "innen" aus gesehen ein je mehr als 2 m tiefer und breiter Graben, ein unterschiedlich breiter Todesstreifen, ein ca. 4 m hoher Zaun mit Kameras, Wärmesensoren, Bewe-gungsmeldern, elektr. Alarmanlage. Dahinter für schnelle Militärbewegungen Teer- oder ähnlich glatte Straße.

Die Hoffnung erscheint zunächst plausibel: Dann werden die Israelis endlich in Sicherheit leben. Aber selbst diese Befestigung wird, ja kann nicht wirklich Sicherheit bringen. Die neuen Grenzanlagen können zwar das Leben erheblich (zusätzlich! Siehe unten Checkpoints und Roadblocks) einschnüren und Momentanhandlungen verhindern. Aber Suizidanschläge sind keine Augenblicksentscheidungen! Wer so verzweifelt ist, dass er seinem Leben ein Ende setzen will und – so schrecklich dies ist – durch "Mitnahme" von Israelis dem wenigstens dann noch scheinbar einen "Sinn" geben will (oder, gewiss viel seltener, wer ideologisch "einfach" durch Hass so verblendet ist und/oder sich von entsprechenden Gruppen instrumentalisieren lässt), der findet auch künftig Mittel und Wege! Selbst die von den USA vorher als "absolut undurchlässig" bezeichnete Grenzbewehrung zwischen Mexiko und USA wird – dort nach wie vor in großer Zahl – überwunden ... Israelis ohne Scheuklappen sagen: Die neue Grenze soll Palästinenser so einsperren, ihnen den Rest an Lebensgrundlage nehmen, dass sie jede sich bietende Gelegenheit ergreifen, viel-leicht Verwandten folgend, auszuwandern. Der Gründungsmythos des Staates Israel (Theodor Herzl: "Unser Volk ohne Land kommt in ein Land ohne Volk") soll in seinem zweiten Teil nachträglich noch wahrgemacht werden. Einige billige Arbeitskräfte werden dann noch geduldet werden. Dann wird der Zaun/die Mauer m.E. auch wieder abgerissen werden... Aber vorerst gilt: Statt dem schon euphemistischen Begriff "ethnische Säuberung" heißt die Vertreibung nun noch verkleideter "Transfer". Nach UN-Definition ist Apartheid ein Verbrechen. Vertreibung solchen Ausmaßes ist zumindest nahe einem Völkermord! Ein Volk als Gesamtheit soll offensichtlich, in seiner Konsequenz aber von der Weltöffentlichkeit doch zu wenig wahrgenommen, "beseitigt" werden6.

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6   28.9.2000 bis Dez. 02 kamen nach palästinensischen Angaben 2163 Palästinenser zu Tode, (zum Vergleich: 748 Israelis) bei von Sept.00 bis Aug. 02 insgesamt 60 Suizidanschlägen mit 262 getöteten Israelis. Und Verletzte, Hinterbliebene...
§ 220a StGB, des deutschen Strafgesetzbuchs, „Völkermord“, besagt praktisch wortgleich dem Art. II der (UN-) Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9.12.1948:
„Abs. 1: Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, [Kursivsetzungen durch den Verfasser]
1. Mitglieder der Gruppe tötet,
2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 224 bezeichneten Art [= schwere Körperverletzung, also mit erhebl. bleibenden Folgen] zufügt,
3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (...) wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
Abs. 2: In minder schweren Fällen (...) ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren“.

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IPGA7

Der "Wall" ist an einer Stelle kein mit Graben, Elektrik etc. bewehrter Drahtzaun. Sondern tat-sächlich eine Mauer, gar eine acht (!) m hohe ¬ Betonmauer mit darüber hinaussehenden Wachttürmen: Am Westrand der palästinen-sischen Stadt Qalqiliya (Kalkilia) verläuft die neue faktische Grenze direkt auf der Grünen Linie, und dort ist die wuchtige Abgrenzung auch schon fertig. Innen (ca. 30 m links des Fotografier-Standorts) liegt eine Schule: Auf-wachsen unter diesen Umständen, angesichts solcher Bedrängung! Nachts ist es lebens-gefährlich, auch nur in die Nähe zu kommen. "Außen", also auf israelischer Seite, verläuft eine stark befahrene Schnellstraße. Offenbar soll der angeblich antiterroristische Schutz-wall (hatten wir nicht auch in Deutschland ähnliche Stein gewordene Lügen?!) den dort vielen Landsleuten suggerieren: So sicher machen wir Euch, und so gefährlich sind die dahinter, dass das nötig ist ... Wer kommt übrigens schon an beide Seiten dieser Mauer? Ich schaffte es nur über abenteuerliche Umwege [Bei der Gelegenheit: Bin z.B. auch mit einem Siedlerbus gefahren, dadurch durch etliche israelische Siedlungen. Blumen sind etwas Wunderschönes! Wir alle brauchen auch Freude in dieser Form. Aber die Menge an bewässerten blühenden Banketts und Straßen-Mittelstreifen dort ist, wenn ich etwa an die wegen Austrocknung aufgenommenen kleinen Patienten im Caritas BabyHospital in Bethlehem denke, obszön!]. Schließlich musste ich zunächst über die Grüne Linie in die nordöstlich von Tel Aviv gelegene israelische Stadt Kefar Sava fahren. Auf meine Fragen dort, wie ich nach Qalqiliya komme, hörte ich x-mal die "Antwort": "Das ist doch viel zu gefährlich!"

In Qalqiliya angekommen (wieder mit Glück, weil schon wenige km zu überwinden sehr kompliziert sein kann) empfand ich aber nur anderes als bedrohlich: Die von Süden und Norden jeweils von tiefer innerhalb Palästina herziehende, dort noch in verschiedenen Planungs- und Bauphasen befindliche neue Grenze stößt östlich von Qalqiliya fast zusammen, lässt lediglich die längst schon einzige von Qalqiliya ins übrige Westjordanland führende Straße "frei" (Natürlich befindet sich dort ein Checkpoint!) und führt dann wie nach einem Flaschenhals wieder etwas auseinandergehend – nördlich und südlich der Stadt nur wenige hundert Meter "Land" lassend – zu der schon fertiggestellten Mauer im Westen. Die Stadt und die Menschen haben praktisch keinerlei Entwicklungs- und Freiraum mehr, sind eng gefangen. Der Checkpoint wird seit Jahren nach Gutdünken geöffnet; allein in der Zeit unseres Israel-Palästina-Aufenthalts waren die Bewohner an mehreren Tagen gehindert, zu ihren Arbeitsstellen hinaus- bzw. hereinzukommen (wobei ja sogar beides in Palästina liegt!).

 

Nakhba-Tag (auch Nakba, Naqba = Katastrophe)

Am 15. (bzw. wegen Sabbat vorgezogen am 14.) Mai 1948 erfolgte die israelische Staatsgründung und damit (endlich!) das Ende der weltweiten Vertreibung und Heimatlosigkeit der Juden. Aufgrund des jüdischen Kalenders wurde diese Erinnerung heuer schon einige Tage vorher gefeiert. Viele (zusätzliche!) israelische Fähnchen zeugten noch davon.

"Auf der anderen Seite" ist der 15.5. für die Palästinenser der "Tag der Katastrophe" und gedachten sie nun, 55 Jahre später, wie alljährlich dem Beginn ihrer Vertreibung!

Glück und Leid so nah zusammen, "nur" von unterschiedlichen Völkern erlebt!

Auch wenn ich die existenzielle Not der Palästinenser, ihre Toten durch Militäraktionen etc. mit dem fabrikmäßigen Umbringen von Juden durch Deutsche weder vergleichen will noch könnte, so ist es doch ein zum Himmel schreiendes Unrecht. Und wenn etliche Palästinenser hier nicht differenzieren, auch, weil sie in den Schulen vom Holocaust wenig erfuhren, so ist es offenbar ein noch höherer Prozentsatz der Israelis, die vor dem Leid der Palästinenser die Augen verschließen. In der Tageszeitung Haaretz könnten sie sich informieren! Aber es lesen sie zu wenige! (Wobei wir Deutschen auch hier, bezüglich kritischer Wahrnehmung der von Regierungen und Medienkonzernen "vorgesetzten" "Wahrheiten", wahrlich ebenfalls Lernbedarf haben...).

Noch eine knappe geschichtliche Rückblende: 1880 lebten ca. 50.000 Juden offenbar weitge-hend problemlos unter wohl gut 1 Mio Palästinensern in "Palästina" (Einen "Staat" gab es dort nicht). Mehrere Einwanderungswellen aufgrund von Pogromen z.B. in Russland bewirkten auch z.T. blutige Widerstände von Palästinensern. So gipfelten Zusammenstöße in den 1920-erJahren 1929 in einem Massaker der arabischen Bevölkerung an den Juden von Hebron. Insgesamt konnten die Juden aber relativ gut in das damit gemeinsame Land integriert werden. Durch die Flucht aus Deutschland in den 1930-er- und 40-er-Jahren wurde es jedoch sehr dicht. Sogar Davin Ben Burion erklärte 1937 in einer Rede: "...Politisch nämlich sind wir die Aggressoren, während sie sich selbst verteidigen (...) Das Land gehört ihnen, weil sie es bewohnen, während wir von draußen kommen (... Der Aufstand) ist aktiver Widerstand seitens der Palästinenser gegen das, was sie als Usurpierung ihrer Heimat durch die Juden betrachten..." Von solchem auch bei Ben Gurion nicht durchgängigen Verständnis ist nichts zu merken in der Verteidigung eines Kämpfers der hebräischen "Nationalen Militärorganisation" 1946 vor einem britischen Gericht (es könnte heute von einem Palästinenser gesprochen werden, mit m.E. größerem Recht, weil nicht die Palästinenser die Juden heimatlos gemacht hatten): "Dieser Krieg ist ein Befrei-ungskrieg, der Krieg eines unterdrückten Volkes gegen seine Unterdrücker, eines Volkes, dem seine Heimat gestohlen wurde, gegen den, der sie gestohlen hat. Trotzdem nennt ihr die Mitglieder der jüdischen Armee ‘Terroristen’. Ein uralter missbräuchlicher Ausdruck, wie ihn alle Tyrannen gegen Kämpfer für die Freiheit mit der Absicht benutzen, deren Idealismus in den Schmutz zu ziehen".

Vor der von den Vereinten Nationen beschlossenen Staatsgründung hatten viele Palästinenser erhebliche Befürchtungen, nun würden sie vollends an den Rand gedrückt werden. Araber ins-gesamt waren gegen die israelische Staatsgründung und auch gegen einen eigenen Palästi-nenser-Staat; was später von vielen als Fehler anerkannt wurde! Arabische Regierungen und Palästinenser griffen innerhalb von 24 Stunden den neu geschaffenen Staat Israel an:Israelis fühlten sich nicht nur bedroht: Sie waren es auch! Allerdings waren sie von vornherein militärisch derart gerüstet, dass sie die arabischen Gegner nach einigen Problemen relativ rasch besiegten. (Nötig wären hier eigentl. auch Anmerkungen zu den Intrigen der britischen Mandatsmacht, die erheblich dazu beigetragen haben, dass der Konflikt so eskaliert ist ...)

3/4 der Palästinenser wurden damals vertrieben bzw. sind geflüchtet

(Der Rest wurde und wird weiterhin trotz formal gleicher Rechte vielfach und massiv benachteiligt. So wurden 400 arabische Dörfer zerstört, anderen "nicht anerkannten" Dörfern im zum Staat Israel gewordenen angestammten Land wurde und zum Teil wird noch das Wasser oder der Strom nicht "nur" rationiert, sondern gänzlich gesperrt, der Schulbetrieb behindert usw. usf. Aber auch in anderen Gegenden hält die Diskrimierungen bei Arbeits- und Wohnungssuche u.v.a. an. Bei weitem nicht "nur", weil diese ca. 20 % arabische Israelis nicht wehrpflichtig sind, damit auch nicht "gedient" haben ...)

In Flüchtlingslagern in Palästina (geschichtlich genauer: Im Westjordanland Jordaniens und im Gaza) sowie in anderen arabischen Ländern sollten sie angeblich "nur vorübergehend" unterkommen. Sie wurden aber von arabischen "Brudervölkern" bzw. deren Regierungen bis heute buchstäblich hingehalten, als "Waffe" gegen Israel instrumentalisiert und damit missbraucht ...

Vertreibung ist für jeden Menschen schlimm. In einem Land, in dem als Heimat nicht der Geburtsort gilt, sondern der Ort, wo der Großvater herkommt, ist Heimatverbundenheit womöglich noch bedeutsamer, wird die Hoffnung auf Rückkehr noch länger aufrechterhalten. Nach wie vor bewahren viele schon in dritter Generation also ehrfürchtig alte Hausschlüssel auf ...– Und die Hoffnung entspricht UNO-Beschlüssen: Sie stellten x-mal das Rückkehrrecht fest!

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Zur Demonstration am 55. Nakhba-Jahrestag fanden sich ca. 120 Menschen in Mas’ha ein. Die palästinens. Frauen trafen sich zunächst separat. Ca. 40 Israelis waren aus verschie-denen Städten dazugekommen! Die gemeinsame Demo zog vom Ort --> hinunter u. dann hinauf zum Friedens-camp. Schwierige Querung des Gra-bens. Bewegende Reden u.a. eines palästinensischen Bürgermeisters und – meist viel anklagender, schärfer – von israelischen TeilnehmerInnen.

Weil ich im vergangenen Jahr etwa hinsichtlich Felicia Langer von "anderen" Israelis ge-hört hatte, sie liebe offensichtlich ihr Land nicht, verrate es ... :

Ich habe bei all diesen die Regierung ihres Landes scharf kritisierenden Israelis gespürt, dass sie es gerade aus Liebe zu ihrem Land tun! Um endlich einen wirklich tragfähigen Frieden zu ermöglichen, ein für alle (!) besseres Leben und dazu mehr Gerechtigkeit und rechtsstaatlichen Schutz auch gegenüber Arabern. Sie sagen u.a.:

è Das Unrecht an Palästinensern ist nicht "nur" ein Menschen- und Völkerrechtsproblem.

è Es schadet auch massiv den Israelis selbst:

ê Der kleine Prozentsatz jener Palästinenser, die zurückschlagen, macht Angst und verursacht unmittelbar Leid. Falsche Reaktionen wirken auch wirtschaftlich katastrophal.

ê Ein Volk verwahrlost, wenn ein relativ hoher Prozentsatz der Soldaten und Siedler Macht nicht "nur" derart willkürlich und teilweise brutal ausübt (andere demütigt, verletzt, tötet, ihnen Schaden zufügt), sondern wenn sie diese Macht praktisch gänzlich ohne strafrechtliche Verantwortlichkeit, also insofern folgenlosmissbrauchen dürfen. Das schadet auch der eigenen Seele! Und dem sozialen Frieden!

Ein Volk mit solcher Geschichte, mit so vielen die ganze Menschheit auf vielen Wissens-gebieten und anderen Feldern bereichernden hervorragenden Geistern hat eine erhebli-che "Elastizität": Da müssen solche "Verbiegungen" nicht gleich in aller Dramatik erkenn-bar sein. Das freilich verführt: Der schöne Schein (z.B. "einzige Demokratie im Nahen Os-ten", technisch-wissenschaftlich glänzende Leistungen) verdeckt, was dann erst spät und um so schlimmer aufbricht ...

Verstehen Sie, warum ich Ihnen so viel Text zumute? Unrecht darf nicht ungehört, unge-sehen, unwidersprochen einfach weitergehen. Es braucht, wenn es überprüft/geändert/ überwunden werden soll, der deutlichen und geeigneten Kritik und Gegenkraft. Und nie-mand kann die Aufgabe delegieren. Die Frage ist nur, wie der einzelne wirkt, nicht ob ...

Nachtrag: Am 21.6. wurde, wie wir erfuhren, das Mas’ha-Friedenscamp derart von Stacheldraht – immer enger gezogen – eingepfercht, dass sie das Camp an eine andere Stelle verlagerten. Sie wollen nicht aufgeben ...

Auch aufgrund von Gesprächen mit anderen Internationalen beschlossen Andreas und ich, am 17.5. nach Nablus zu fahren, um uns dort auch noch in anderer Form für mehr Gerechtigkeit und Recht einzusetzen. An dieser Stelle müssen endlich zwei Systeme geschildert werden, mit denen schon längst vor dem Bau des Separation-Wall die Bewegungsfreiheit und damit u.a. auch das wirtschaftliche Leben in Palästina massiv und nachhaltig eingeschränkt wird: Checkpoints und Roadblocks.


Checkpoints

Die inzwischen wenigen Touristen und Pilger, die etwa nach Bethlehem oder zwischen See Genezareth und Totem Meer im Jordantal fahren, erleben Checkpoints allenfalls als lästig. Ausländer haben sich in der Regel nur auszuweisen, manchmal zu erklären, warum /wozu sie passieren wollen. Sie können – manche immerhin mit gemischten Gefühlen – an den oft ersichtlich lange wartenden Palästinensern vorbei gehen oder fahren. Aller-dings bedarf es (abseits dieser von Ausländern auch heute noch leidlich frequentierten Checkpoints etwa um Jerusalem herum) oft einer glaubwürdigen "Legende". Denn Worte wie "Friedensaktion", "ISM" o.ä. hätten uns (übrigens auch schon bei der Eingangsbefra-gung nach Landung am Flughafen in Tel Aviv!) jeden Zugang verwehrt! In Gegenden jenseits von Ramallah, wo sich praktisch keine Touristen mehr hin verirren, war es oft schwierig und wurde es auch in unserer Zeit einigen "Internationalen" verwehrt, Check-points zu passieren. Die Gewaltfreien müssen schon als recht gefährlich eingeschätzt werden ... Aber, werden Leser einwenden: Sicherheit hat ihren Preis.

Seit der Okkupation der Westbank und des Gazastreifens infolge des Sechstagekriegs 1967 wurden "Check-Points" angeblich zur Suche nach Terroristen eingerichtet (Wird wer, der ein Verbrechen vorhat, sich dem Risiko dieses "Checks" aussetzen und nicht andere, wenn auch meist noch deutlich mühsamere und wegen der Umwege ebenfalls zeitaufwändige Wege nehmen? Die sind zwar auch nicht risikofrei, aber wer wirklich einen Terrorakt vorhat wird sich, wenn er auf dem Weg abseits, oft über die Berge, von Soldaten gestellt wird, kaum schlagen lassen und im Zweifel vielleicht doch noch eher schießen). Ich denke, ich habe weiter unten aber Gewichtigeres, dass "Checkpoints" wenig "checken", viel behindern (und das auch sollen).

Nachdem Andreas mich vom Flughafen abgeholt hatte waren wir über Jerusalem zunächst nach Bethlehem gefahren: Dem Caritas-Baby-Hospital von verschiedenen Menschen mitgegebene Medikamente abzugeben; auch etwas Geld für die gerade dort ergän-zend so wichtige ambulante Arbeit in den Dörfern, weil die Familien das Krankenhaus wegen der Checkpoints und zusätzlich Ausgangssperren oft genug nicht erreichen kön-nen! Andreas war verwundert, wie glatt und schnell wir (Nicht-Palästinenser!) den Check-point jeweils passieren konnten (Wobei das, zumal zunächst mit der prallvollen Medika-mententasche, auch ganz anders hätte ausgehen können. Ich hatte vorsorglich eine Jerusalemer kirchliche Bestätigung dabei, mit der ich ggf. wahrscheinlich doch "durchge-kommen" wäre, ansonsten – hoffentlich ohne dass die Soldaten mir die Medikamente abgenommen hätten – sie wohl wenigstens hätte nach Jerusalem zurückbringen können, damit kirchliche Mitarbeiter bei günstigerer Gelegenheit es wieder versuchen hätten können. Also schon der einfache Akt Spendenübergabe bedurfte vorsorglich-sicherheits-halber einiger Logistik.

[Einschub: Ein kurzer Stadt- und Kirchenrundgang (auch Moschee) wenigstens und ein (für mich Wiedersehens-)Besuch bei Mitri Raheb und seinem gerade in derart bedrängenden Zeiten so hoffnungsvoll-wichtigen Begegnungszentrum war uns möglich. Dessen großer Umbau hätte im Mai 2002 eröffnet werden sollen, war im April 02 durch israelische Soldaten so verwüstet worden – z.B. waren sämtliche Türstöcke herausgerissen, alle Computer zerstört – dass es nun im Juli/August 03 wieder "so weit" sein sollte ... Was hätte man mit den notwendigerweise nochmals aufzubringenden Spendenmitteln zusätzlich schaffen können!). Und dass Pfarrer Raheb, ein ganz liebenswerter, unaggressiver, ruhiger Mensch, im vergangenen Jahr mit vorgehaltenem Schnellfeuergewehr vor den Augen seiner entsetzten halbwüchsigen Tochter bedroht worden war, das hat er nie erzählt, weiß ich nur von seiner Schwester Viola. Und warum sie, Viola, nicht mehr in Bethlehem leben kann, sie war Schulrätin für Palästina, das wäre eine eigene, wehe Geschichte. Was ging und geht da alles kaputt ...

Einige Beobachtungen/Gedanken an/zu Rachels Grab schildere ich später].

ISM war ja zu der Zeit nicht erreichbar (s.S. 6), so dass wir ansonsten schnellstmöglich zu IWPS wollten, dazu am 11.5. zunächst zurück nach Jerusalem fuhren. Andreas hatte schon in Erfahrung gebracht: Wir hatten Glück, konnten Zeit und Geld sparen. Die stell-vertretende Leiterin und eine Volontärin des Österreichischen Hospizes, wo wir in Jerusalem übernachteten (sehr empfehlenswert!), hatten sich von Karin/IWPS animieren/ einladen lassen, sich einen eigenen Eindruck vom Mas‘ha-Friedenscamp zu verschaffen. Sie fuhren just an dem Tag, 12.5., da wir auch hinwollten, nahmen uns mit. Es ging nördl. in das Westjordanland. Am ersten Checkpoint konnten wir – mit dem gelben, d.h. israelischen Autokennzeichen! – glatt durchfahren. An der Abzweigung nach Ramal-lah gerieten wir etwas in den dortigen erheblichen Rückstau, konnten uns aber dann durchfädeln und letztlich rechts daran vorbeifahren. Auch am Stau am Checkpoint an der Kreuzung der beiden großen die nördliche Westbank durchziehenden Nord-Süd- und Ost-West-Straßen ging es kühn, für uns problemlos, auf der Gegenfahrbahn an den auch hier wartenden Palästinensern vorbei. Dann kurz nach Westen (Dort tauchten wir in ein ganz anderes System ein, das ich unter Roadblocks schildere). Vorher aber doch noch etwas zum hier immerhin leidlich bekannten Checkpoint-System:

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An den ganz verschiedenartigen Kontrollposten, z.T. ähnlich den BRD-DDR-Grenzübertritt-Stellen ausgebaut, z.T. nur durch einen Panzer verkörpert, werden Palästinenser oft demütigend kontrolliert und schikaniert. Palästinenser benötigen zum Passieren vielleicht fünf Minuten, oder ½ Stunde, oder vier oder mehr Stunden – um womöglich dann zu erfahren, dass spe-ziell sie nun doch nicht passieren dürfen, oder dass heute und vielleicht auf un-absehbare Zeit überhaupt kein Durchkommen (mehr) ist. Je nach politischer Großwetter-lage, wobei dies innerhalb von Minuten wechseln kann (z.B. Verbot des Übertritts von Palästinensern zu ihren in Israel oder auch nur in einer anderen "Autonomie"-Zone liegenden Arbeitsstellen). Und zusätzlich einengend je nach Laune des wachhabenden Offiziers und oft auch des einzelnen Soldaten. Gehindert, dort hin zu gehen oder fahren, wo sie hin wollen oder müssen. Etwa im Caritas-Baby-Hospital in Bethlehem wurde uns im vergangenen Jahr bestätigt, dass Berichte z.B. von zur Entbindung fahrenden Frauen stimmen, denen – teilweise in Ambulanzen und trotz erkennbarer Notlage – jedes Passie-ren verweigert wurde und die ihr Kind verloren oder auch selbst verbluteten. Ich kenne auch Berichte über die durch Palästinenser-Anschläge umgekommenen Kinder. Beides ist schrecklich! Und beide Seiten verwenden sie auch für Propaganda (und missbrauchen damit die Kinder! Auf der einen Seite wird sogar mit Hochglanzbroschüren weltweit Politik gemacht. Kein Wort vom Elend der anderen).

Inzwischen gibt es in dem kleinen Land mit steigender Tendenz mindestens 150 Checkpoints, viele um die in den Karten laut Oslo markierten, aber längst schon nicht mehr im gemeinten Sinn "autonomen" Zonen A und B (siehe 4. Umschlagseite). Manche Checkpoints sind auch temporär, z.T. völlig unberechenbar, unerwartet auf der Strecke. Wie gesagt: ein Panzer genügt dazu. Ein Palästinenser sagte einmal: "Das sind keine Checkpoints, das sindPunishpoints. Zum Erniedrigen und Demütigen".

Huwarra-Checkpoint südlich vor Nablus. Von dort, wo man/frau als Palästinenser oder als wie diese sich bewegender "Internationaler" meist aus dem Sammeltaxi aussteigt, bis zu den jenseits der Kontrollstelle wartenden Taxen/Bus dürfte es knapp ein km sein: Beson-ders mühsam für Alte, Kranke, mit schwerem Gepäck. Und es gibt, wenn auch eher im Februar, Regentage: Kaum auszudenken, in welchen Morast sich dann die riesigen Sand-flächen verwandeln (Die Straßendecken an Checkpoints erscheinen häufig "extra" zerstört). Für Menschen mit gelben Kennzeichen sieht die Welt natürlich ganz anders aus: Sie könnnen durchfahren. Zu einer ganz anderen Wirkung mancher Checkpoints siehe auch S. 25 bei Nablus 1. Abs.

Bei meinem Passieren des Checkpoints nach Ramallah am 24.5. mittags wurden weder ich noch Palästinenser auch nur zum Ausweis-Vorzeigen aufgefordert. Wir alle konnten einfach durchgehen! Ich war angesichts anderer Erfahrungen perplex. Und nochmals, als ich in der Stadt glaubwürdig von zwei Seiten hörte, am Vormittag des selben Tages sei stundenlang absolut zu gewesen. Was hat dies dann mit Sicherheit der Israelis oder von sonst wem zu tun?! Ist nicht durch solches "System" die Schikane statt Kontrolle erwie-sen?

Checkpoint-Watch

Wir waren in Nablus angekommen gut eine Woche, nachdem in Beit Sachur die ISM-Zen-trale buchstäblich "auseinander genommen" worden war (s.S. 6. Es war deutlich zu spüren, wie sehr ISM getroffen war. Nicht etwa, weil man fürchtete, auch verhaftet zu werden: Es war uns allen klar, dass es jeden treffen kann, und wir besprachen es auch, was im Fall der Festnahme getan werden kann und muss etc. Und 2 Freunde aus unserer Gruppe, Mike und Matteo, beide US-Amerikaner, wurden, während Andreas noch in Nablus und ich in Jenin war, in Tulkarem festgenommen und blieben 10 Tage jeweils in Einzelhaft, erhielten dann eine kurzfristige Ausreiseanordnung. Nicht also das schreckte! Sondern es galt, immer zu überlegen, ob die Gesamtarbeit und –ziele durch Aktionen gefährdet werden. Priorität hat, in möglichst unmittelbarer oder wenigstens ideeller Gemeinschaft mit israelischen Friedensbewegten Zeichen der Solidarität mit den unter-drückten Palästinensern zu setzen und zumindest zu versuchen, ihnen zu mehr Gerech-tigkeit zu verhelfen. Es galt, falsche Vorwände zu vermeiden, Verhaftungen möglichst nicht dort zu riskieren, wo politisch nichts zu erreichen wäre: Daher hatte ISM also am 9.5. nachmittags Checkpoint-Watch eingestellt, das Beobachten, wie die Soldaten mit Palästinensern umgehen. Aber eine zu lange Pause wäre nicht gut. Also:

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In "unserer" Woche ging es nun u.a. darum, festzustel-len, wie inzwischen die Situa-tion an den sechs Checkpoints rund um Nablus überhaupt war, und was ggf. sinnvoll getan werden kann. Die bisherigen Kenntnisse sagten: Die verschiedenen für die auch unterschiedlich ausgetatteten Checkpoints zuständigen Militäreinheiten sind unterschiedlich "scharf", gehen also unterschiedlich grob und willkürlich mit Palästinensern und – abgeschwächt – dann auch mit Internationalen um. Wir machten also einen Plan, an einem Nachmittag an möglichst vielen der Checkpoints die aktuelle Lage zu sondieren. Zu unserer "Eingewöhnung" zunächst an einem als "mittel-schwer" bekannten Checkpoint, dann an den beiden schwierigsten, und soweit wir bis dahin nicht festgenommen sind, möglichst auch noch die übrigen ... Dabei vereinbarten wir, an jenem Tag zum "Wiedereinstieg" ausschließlich zu beobachten (Also Checkpoint-Watch im engen Sinn) – Das ist für manche Soldaten "Provokation" genug".

Wir stellten also nur fest, wer (Fußgänger, Lkw’s, Eselkarren ...) nach wie langer Zeit und wie "behandelt" passieren oder – möglichst auch warum – nicht passieren durfte. Schon dabei "ernteten" wir ein offenbar aus tiefer Seele kommendes schukran (danke) einer Palästinenserin (Spüren, dass die Not wenigstens nicht übersehen wird! Dass Menschen "draußen" sie ernst nehmen!).

Und ganz, ganz toll wäre, wenn mancher Soldat, dem aus unterschiedlicher Entfernung "über die Schulter geschaut" wird, sich auch etwas nachhaltiger seiner ursprünglichen Mitmenschlichkeit wieder erinnern könnte, die in so militärisch-vorurteilsgeladener Atmosphäre leicht abhanden kommt ... Wir stehen auch zu naiven Hoffnungen!

Bei einem anderen Checkpoint beobachteten wir, dass ein junger Mann zurückgeschickt wurde und sehr geknickt war. Er sprach uns nach offensichtlich langem Überlegen an. Anhand seiner Papiere zeigte er uns auch, dass er Lehrer in Nablus und zugleich noch Student für Psychologie an der Universität ist. Der zweite Tag, an dem er nun nicht zu seiner Familie in ein nahes Dorf heimgehen durfte. Wir berieten uns, kamen einhellig zum Schluss, dass wir nun doch zu intervenieren wenigstens versuchen sollten. Judy, US-amerikanische Jüdin, und Mike, ebenfalls US-Amerikaner (jener, der in Tulkarem später arretiert wurde), sollten es versuchen. Sie fragten offenbar geschickt und hartnäckig genug nach Gründen der Zurückweisung, verwiesen auf Menschenrechte etc. – und wir freuten uns alle, als der junge Mann schlussendlich passieren durfte (Wir, die wir weiter weg standen, erlebten gleichwohl auch noch seine Erleichterung!).

War es freilich ein Pyrrhussieg? Die nächsten vier, Arbeiter, kamen nicht durch. Wie wir später erfuhren (auch sie "kämpften" offenbar lange in sich, ob sie sich hilfesuchend an uns wenden sollten) waren sie morgens hier normal herüber zur Arbeit gekommen, hatten aber alle schon öfters Durchgangsverbote erleben müssen. Auch mit Intervention unserer bewährten kleinen Crew erreichten wir lediglich schließlich die dann starre "Begründung": Sie stammen aus drei Ortschaften in der Nähe, "und da darf heute keiner hin". Andreas und ich stellten uns vor, dass vielleicht dort bzw. von dortigen Bewohnern ein Anschlag verübt worden war (was anscheinend aber nicht der Fall war, weil wir an den Tagen darauf immer sehr genaue Informationen erhielten). Also war es "gelenkte" oder indivi-duelle Willkür, schlicht Verärgerung, dass die Internationalen den Finger auf den wunden Punkt legen? Wie auch immer: Selbst bei einem Gewaltakt in oder aus jenen Dörfern: Entsprechend hätte man bei uns z.B. nach den Schülermorden in Brannenburg, Freising oder Metten vor einigen Jahren einfach die ganzen Einwohner mit in Haftung nehmen können. Also nicht nur "Sippenhaft", sondern noch viel weitergehend. Wir fragten die Arbeiter, was sie nun tun werden. Mit Angst im Blick: "Wir werden es wieder über den Berg versuchen" (S. 22/23) Abhängigkeit pur. Ohne jedes Recht.

Straßenzustand. Palästinenser (mit grünen Kfz-Kennzeichen) dürfen mit Ausnahme einiger (auch aus topographischen Gründen nicht vermeidbarer, aber dann mit Check-points versehenen) Straßenstrecken auf den vorher geschilderten, überwiegend gut aus-gebauten Straßen nicht fahren. Sie dürfen ansonsten nur ihre Dorf- und Dorfverbin-dungsstraßen benutzen. Diese sind mangels Geld an vielen Stellen mit Löchern übersät, und ich habe ausgefahrene Mulden von 1,50 m Tiefe erlebt, durch die sich Pkw‘s und auch Lkw‘s quälten und schlichen, dennoch manchmal aufsetzten ...

Exkurs zum Geld: Die israelische Regierung hatte z.B. erhebliche – auch drückende und mit zur ersten und zweiten Intifada ("Abschütteln"!) führende – Steuern eingezogen, aber der "PA" (Palestinian Authority, der "Regierung") große - eigentlich abzuführende - Anteile vorenthalten. Damit sind riesige Schulden aufgelaufen, die zusätzlich zu den Wertverlusten etwa durch von israelischem Militär zerstörte Behördengebäude fehlen. Und wo eine Arbeitslosigkeit von ca. 60 % drückt, leiden wiederum auch Wirtschaft und Staat. Und welche zusätzlichen Schäden und Folgekosten durch nicht rechtzeitige "Sicherungen" entstehen, weiß jeder, der mitbekommt, mit welchen Argumenten Straßen bei uns relativ frühzeitig ausgebessert werden. Abgesehen von den Schäden an den Fahrzeugen. Ich erlebte einige Taxis mit durchgeschlagener Federung ... Die Straßenschäden sind dennoch das geringere Problem:

Roadblocks

Ein zumindest in der Dichte und Tragweite im Ausland (übrigens auch in Israel) kaum bekanntes System!

Im Wagen des Österreichischen Hospizes suchten wir am 12.5., nachdem wir zunächst auf den "Siedlerstraßen" zügig vorangekommen waren, die Abzweigung in das paläst. Dorf Haris. Wir wurden per Handy von Karin gelotst und an einer Tankstelle zu Fuß abge-holt (Ich wunderte mich: Warum alles Gepäck mitnehmen? Offensichtlich Autowechsel. Warum?). Auf Trampelpfad ging es ins Dorf ins Büro des IWPS. Nach kurzer Bespre-chung gingen wir zur Dorf-Hauptstraße und überstiegen am Dorfende den ersten Roadblock. Hier wie meist: Von Bulldozer zusammengeschobenerErd- und Geröllwall zur Unterbrechung der jeweiligen Straße. An anderen Stellen auch mit schwerem Gerät hergeschaffte ca. 1,20m³ Betonblöcke, Müll, kaputte Autos ... Jedenfalls wird jeglicher Autoverkehr darüber weg verhindert!

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Per Handy wurde einer der Bewohner eines anderen Dorfes jenseits "geordert". Brachte uns für ein paar Schekel bis zum nächsten Roadblock: Schon nach ca. 2 km der nächste "Roadblock", diesmal eine massive Eisenschranke. Solche Roadblocks können bei Bedarf in einen Checkpoint verwandelt werden (Bedarf des israel. Militärs! Bedarf? Willkür?) Auch hier seitlich zusätzlich ein Erdwall zusammengeschoben, über den man/frau dann darüberbalancieren kann. Auf der anderen Seite jenes Roadblocks stehen meistens eine ganze Reihe von "Taxis" (ganz überwiegend Privatleute, die – die Arbeitslosigkeit drückt – wenigstens einen kleinen Verdienst erhoffen). Nun ging es ungebremst immerhin 6 oder 7 km weit, wo wir unmittelbar nach Mas‘ha und knapp vor dem nächsten Roadblock dann ausstiegen und eben zu Fuß auf den Hügel zum internationalen Camp stiegen.

Es gibt auch Stellen, wo der Aktionsradius der buchstäblich gefangenen Pkw und Lkw etwas größer ist: Das Land ist großenteils stark hügelig, z.T. bergig. Aber dort, wo Feldwege es erlauben, Roadblocks zu umgehen, kann man sich dann über entsprechend löchrige Wege quälen. Ich fürchtete mehr als einmal, dass die Lkw’s umkippen. Was da an Zeit und Material kaputt geht! Und genau das ist offensichtlich der Zweck:

Schon Israel ist wirtschaftlich – vor allem unter Scharon – in eine sehr schwierige Situation geraten (s. S. 47). Die Militärausgaben sind astronomisch, drücken trotz der US-Hilfen. So schlimm es Israelis empfinden: In Palästina ist es unvergleichlich ärger. So kommt von dem seit bald drei Jahren massiv reduzierten Tourismus nach Israel noch sehr viel weniger in Palästina an. Oder – auch nur ein Beispiel – eine Brauerei in Ramallah konnte ihre Abnehmer in der übrigen Westbank nicht mehr erreichen, musste aufgeben. In Palästina gibt es also ganz viele einheimische Produkte nicht mehr, dafür liefert Israel (auf seinen Straßen!) gerne! In Palästina ist also alles ohnehin noch wesentlich dramatischer. Und das, werden Scharon und seine Leute um ihn sagen, ist auch gut so. Wenn sie nichts mehr zu arbeiten, zu verdienen, zu beißen haben, werden auch die Hart-näckigen über kurz oder lang versuchen, schon früher emigrierten Verwandten oder Freunden nachzuziehen: Sie werden diese oft überstrapazierten Kontakt-Brücken nutzen und nach Kanada oder Frankreich oder Deutschland auszureisen versuchen, notfalls auch nach Jordanien etc. Wir erlebten beides: Palästinenser, die auf eine solche Gelegenheit hoffen, und andere, die – ebenso verständlich – sagen: Das ist doch seit Urzeiten unser Land, nein, sie werden uns trotz allem nicht vertreiben können; sie sollen doch mit den von den Vereinten Nationen festgelegten Bedingungen zufrieden sein ...

Quintessenz: Das in Europa – immerhin – vielfach schon als ungerecht und schlimm empfundene System der Checkpoints im Lande "reicht" noch nicht. Das noch wesentlich dichtere Netz der Roadblocks (der also für Autos unüberwindlichen Straßenblockaden) kennt hier praktisch niemand, denn wer fährt schon auf den den Palästinensern nur zugänglichen Straßen?! Die Roadblocks rauben Kraft und Zeit der Einzelnen, sie stehlen Bruttosozialprodukt, sie demoralisieren: Zeigen, wer im "eigenen" Land der Palästinenser "das Sagen hat". Und:

Die Checkpoints haben wenig und die Roadblocks haben nichts zu tun mit dem (verständlichen!) Wunsch der Israelis nach Sicherheit. So habe ich auch, an meinem letzten Abend, einem israelischen Soldaten in Jerusalem an der King-George-Street meine frische Erfahrung vom am selben Tag einige Zeit völlig unkontrollierten Checkpoint vor Ramallah erzählt (nachdem er vorher stundenlang absolut geschlossen war). Auch, wie bei einem Roadblock (dort sind selten Soldaten) nicht nur Brotlaibe, sondern auch schwere Marmorplatten aus Autos ausgeladen, mühsam über den Trampelpfad über den Erdwall geschleppt und in andere Fahrzeuge eingeladen wurden. Und dass ich merkte: Da könnten 300 oder 500 Sprengstoffgürtel sehr viel leichter transportiert werden ... Roadblocks sollen der Sicherheit dienen?

Nicht genug (auch wenn nicht so schlimm, aber bei den sonstigen Lebensbedingungen doch möglicherweise den Zorn erhöhend): (Auch) an einigen der den Palästinensern nur zugänglichen Straßen hängen an Laternen- oder Telefonmasten israelische Fähnchen.

Ich wunderte mich – und andere Internationale tun es auch – dass angesichts der keinen Ausweg lassenden Mischung aus Demütigungen, Behinderungen und auch unmittelbar erlittenen Gewalt nicht sehr, sehr viel mehr Gewalt ausgeübt wird. Kaum wo erlebten wir und berichten andere seriös von explosiver Wut (1x; war dann aber auch wieder rasch "gut". Palästinenser können, wurde mir mein Gesamteindruck später glaubwürdig bestä-tigt, mehrheitlich auch verzeihen! Eigentlich eine gute Gabe für den Friedensprozess, mit der "die anderen" "wuchern", die sie aber auch nicht überstrapazieren sollten ...).

Ich sage nicht, dass es ihn nicht gibt, aber wir erlebten keinen tödlichen Hass. Viel, viel mehr ist es offensichtlich ohnmächtiger, in sich hineinfressender Zorn.

Ich berichtete von den Arbeitern, die nach ihrem Arbeitstag in Nablus den Checkpoint nicht passieren, also nicht nachhause gehen durften. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiträumig über den Berg zu gehen. Das kann 2 oder 3 Std. bedeuten. Wobei das nicht nur mühsam und zeitraubend ist, sondern auch gefährlich – sie gehen dann ja "illegal" über eine angebliche, wenn auch von der Besatzungsmacht aufoktroyierte "Grenze". Wir haben in der weiteren Umgebung ein andermal Soldaten in Olivenhainen gesehen und nahmen – als Internationale – angesichts ihres drohenden Verhaltens Reiß-aus. Dass Palästinenser geschlagen werden ist jederzeit "drin", erschossen werden ist keinesfalls ausgeschlossen. Und immer heißt es dann, die Soldaten seien angegriffen worden, hätten in Notwehr oder doch "wenigstens" prophylaktisch geschossen.

Ich selbst musste auch einmal über einen Berg gehen. Auf meinem Weg von Jenin nach Qalqiliya konnte vor Nablus der Fahrer des Sammeltaxis (die kennen sich meist gut aus, sie wollen ja auch verdienen) wegen eines über Nacht "entstandenen" Roadblocks trotz Beratung mit Einheimischen 2 Palästinenser und mich nicht wenigstens in die Nähe des von mir bei der Hinfahrt schon benützten Checkpoints bei Nablus bringen. "Nähe" heißt hier "normalerweise": bis zu einem hübschen Fußweg (sieheTitelbild ) von ca. 15 Minuten und dann Umsteigen in ein dortiges Taxi, das dann bis ca. 8 Geh-Minuten vor den Checkpoint fährt. Der "Titelbild-Weg" ist Teil der "normalen" Strecke von der Großstadt Nablus in die 42 km entfernte Kreisstadt Jenin! Und ebenso "der" Weg für viele Menschen in der Umgebung, die täglich nach Nablus in die Arbeit müssen (dann aber vielleicht den Checkpoint nicht passieren dürfen), ebenso zum Einkaufen, für Arztbesuche (es sei denn, man braucht ohnehin schon die Ambulance...).

Bei unserer Fahrt war auch kein Ausweichen auf noch kleinere Feldwege möglich. Daher lud uns der Fahrer von Nablus aus gesehen schräg hinter’m Mount Ebal aus. Dann stiefelten wir mit Gepäck in der Hitze los und hoch. Ich trottete hinter den Palästinensern her, war etwas in Gedanken versunken, schaute aber nach vorne, als die beiden wie angewurzelt stehen blieben. In etlicher Entfernung waren Menschen, wohl Männer, unter einem Olivenbaum zu sehen. Soldaten? Was tun? Ich dachte mir, auf große Entfernung werden sie nicht schießen, und wenn wir näher dran sind, werden sie mich als Europäer erkennen und wahrscheinlich nicht schießen, ohne vorher wenigstens irgendetwas zu brüllen. Und dann, dachte ich mir, werde ich mit der Situation wohl schon irgendwie fertig werden. Die Palästinenser waren froh, nun im "Windschatten" gehen zu können. Und alle hatten wir Glück, dass es unter den Bäumen nur Hirten waren! Die uns sogar auch noch den gerade höchstwahrscheinlich (und dann tatsächlich von Soldaten) "freien" Pfad weisen konnten. Ich selbst war natürlich auch nicht "cool". Aber wichtiger war, dass ich die Angst meiner Begleiter, das Ausgeliefertsein in einer ihrer Alltagssituationen spüren musste. Wie geht man mit Menschen, einem Volk um?! Die "Rechtfertigung" durch Gewaltakte von Palästinensern ist schlicht keine. "Volks-Haft" ist nicht "rechtens" In Rechtsstaaten gibt es dafür Instrumentarien.

Ein Arzt in Jenin erzählte mir glaubwürdig, dass er mit einem Schwerkranken aus dem dortigen Krankenhaus in die besser ausgestattete Klinik in Nablus fahren musste. Ambulanzen dürfen – großartig! – grundsätzlich auf jenen den anderen Palästinensern verbotenen ("Siedler-", hier wie oft einfach den alten Städteverbindungs-) Straßen fahren – Wenn sie nicht z.B. den falschen Soldaten begegnen! Auch da gibt es schlimme Erfahrungen. Sie fuhren also die bessere und an sich für Kfz durchgängig von Jenin nach Nablus befahrbare Straße über den Ort Samaria (Anders als "unsere" östlichere Strecke über Tubas, die ja meist nur in die Nähe des Checkpoints nach Nablus führt und – siehe oben – manchmal nicht mal das). Aber: Sie kamen relativ nah vor Nablus an eine von Siedlern quer über die Straße angebrachte, mit Schlüssel versperrte, massive Eisenschranke. Keine Möglichkeit, sie zu umfahren, niemand weit und breit, kein Rufen, Hupen und Suchen half. Sie mussten zurück nach Jenin, dann z.T. über Feldwege bis hinunter kurz vor Jericho (ein Blick auf die Karte lohnt), um auf anderen z.T. sehr schlechten Straßen sich nun wieder in nordwestlicher Richtung Nablus zu nähern. Sie brachen die Fahrt ab: Der Patient war inzwischen verstorben.

Diese menschenverachtenden Systeme werden nun noch ergänzt: Mit dem sog. Securitywall soll noch weiter hineingeschnitten werden in die schon so arg beschnittenen Rechte und Überlebensmöglichkeiten der Palästinenser.

Notwendige Fahrten (andere werden in Palästina, glaube ich, kaum unternommen) finden, wenn es über einen Roadblock hinaus geht und damit eigene Fahrzeuge buchstäblich "nicht weiterkommen", meist mittels Umsteigen mit privaten "Taxis" oder "richtigen" (gelben) Taxis oder hauptsächlich mit den gelbschwarzen Sammeltaxis statt. Letztere sind für uns relativ preiswert, für dort lebende und verdienende (oder nichts verdienende!) Menschen sehr teuer!

Preiswertere palästinensische Busse gibt es nur auf sehr wenigen Routen und selten. Sie dürfen übrigens grundsätzlich auch ansonsten für Palästinenser verbotene Straßen befahren, weil sie nicht auch über Feldwege den Roadblocks ausweichen könnten; im übrigen würde sonst die Besatzungsmacht die Ausweichrouten praktisch anerkennen, könnte sie dann nicht so leicht einfach zwischendrin wieder zur unerlaubten Strecke erklären ... Nur zweimal konnte ich mit "einheimischen" Bussen fahren. Vom Checkpoint Huwarra südlich von Nablus in die Innenstadt von Nablus. Und später einmal vom Checkpoint Qalqiliya aus Richtung Nablus; aber schon dessen Anschlussbus Richung Jerusalem fiel prompt aus, weil "IDF", die "Israelian Defense Force", also das Militär, ihn stoppte. Was wird sie da "verteidigt" haben?

Zur vorherigen Fahrt von Mas’ha nach Nablus hier nur so viel: Wegen Roadblocks wieder mit wechselnden privaten "Taxen". Zum Teil malerische Landschaften. Auch hier dichter als das lockere Netz der palästinensischen Ortschaften die israelischen Siedlungen! Diese meist oben auf den Bergen. "Aus Sicherheitsgründen". Zum Teil – schon zum Ansehen bedrohlich – direkt oberhalb von natürlich ungleich älteren palästinensischen Dörfern situiert. Und in jener Gegend passiert es auch immer wieder, dass Siedler herunterschießen. Für manchen scheint es ein Machtrausch zu sein.
Zum Huwarra-Checkpoint siehe S. 18.

Roadblock-removing: Eine Dorfgemeinschaft hatte, wurde uns erzählt, 10 Tage lang den ihre Beweglichkeit so erheblich einschränkenden Roadblock jeweils weggeschaufelt (Allein schon Kraft und Ausdauer!). Er war zwar dann jeden Tag mit Bulldozer wieder aufgeschüttet. Aber immerhin wurden sie beim Wegschaufeln weder verhaftet (Palästinenser – ohne Gewaltanwen-dung – wurden ohne Anklage schon 6 Jahre arretiert, ein jedem Rechtsstaat hohnsprechendes Verfahren!) noch verletzt oder gar getötet. "Auf der anderen Seite" ist offenbar ein menschlich-empfänglicher und couragierter Offizier gewesen: Er ließ dann schließlich sogar eine immerhin fahrzeugbreite Furt frei! Das Dorf war ein sehr hohes Risiko eingegangen und hatte dann gewon-nen. Manchmal geschehen noch "Wunder". Aber solche sind eben nicht selbstverständlich ...

In Nablus vor dem großflächigen, im April 2002 von Apache-Raketen und Panzern zerstörten ehemaligen Regierungsgebäude (Muquaqa oder Mukaka) verlief in Ost-West-Richtung die Hauptstraße der Stadt. Ein vor der Mukaka-Ruine tief gestaffelter, also noch viel größerer als üblicher, aus Schutt bestehender Roadblock macht sie jedoch zu zwei Sackgassen, der Verkehr drängt sich auf einer anderen Straße. Das Gelände ist für das Militär gut einzusehen. Dennoch gelang es in einer Nacht- und Nebel-Aktion (ohne dass der natürlich wertvolle Schaufellader einer palästinensischen Firma erwischt wurde!), die wichtige Straße für einige Stunden zu öffnen. Dann war der Road-block wieder hingeschoben. Die Sperrung der Straße hat für das Militär ersichtlich keine strategisch-taktische Bedeutung, kann nur als "Herr-im-Haus-Manifestation" verstanden werden. Das Risiko für weitere Abräumaktionen erschien aber zu groß.

Nablus

Die Stadt hat nach verschiedenen Unterlagen/Informationen 120‘ od. 250‘000 Einwohner (also entsprechend Regensburg – auf mich wirkt Nablus in dieser Größe – oder aber wie Augsburg). Eine faszinierende 1000-jährige Altstadt mit geschäftigem malerischem Markt, z.T. unter würdigen Gewölben. Eine Uni mit 10.000 Studenten – Wo 1/3 der Lehrveranstaltungen nicht stattfinden kann! Weil den in Ortschaften außerhalb von Nablus wohnenden Studenten und Dozenten das Passieren der Checkpoints häufig versagt wird! Wir haben dies in unserer kurzen Zeit mehrmals beobachten müssen. Die Checkpoints sind so nicht "nur" eine erhebliche Behinderung der Wirtschaft und der Lebensqualität, sondern auch der Bildung und damit des Zukunftskapitals eines Volkes!

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Rechts oben das am Bildrand angeschnittene Haus ist das Khilfe-Haus (s.S. 33).

Darunter ein hellerer Teil des Markts. Links Zerstörungen.

Die Stadt liegt auf ca. 550 m ü.M. an einem ganz sanften "Pass", der Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Jordangraben, steigt südl. und nördl. zwischen zwei 881 und 940 m hohen kuppigen Bergen an deren Hängen etwas auf. Also sowohl tags als auch durch die Lichter nachts sehr reizvoll. Freilich: Die Bausubstanz ist oft schauerlich, und etliche Häuser, auch in der Altstadt, wurden gezielt von israelischem Militär zerstört. Immer mit der Begründung "Sicherheit". Wie hoch wird der Prozentsatz sein, wo dies tatsächlich zutrifft? 10%???

In allem gibt es unverhofft zarte, schlichte menschliche Freuden: Es war einfach schön, mitzuerleben, wie selig eine dort lebende Schwedin war, von einer anderen Frau zu erfah-ren, dass es entgegen ihren Erfahrungen in Nablus nicht nur die beiden Hamams, "türkische" Schwitzbäder in ehrwürdigen Gewölben, sondern doch eine (!) Schwimmmög-lichkeit geben soll: Wenigstens einen kleinen Hotel-Swimmingpool ...

Ich habe auch sonst oft daran gedacht, wie – einerseits verständlich! – Israelis klagen, wenn sie wegen der Anschläge nur mit Angst z.B. in Tel Aviv im Meer baden oder in Diskotheken gehen können – Aber was "können" Palästinenser? Sogar der Zugang zum Jordan und "ihrem" Teil des Toten Meers ist ihnen verwehrt. Und wo gibt es außer in Ramallah eine Diskothek? Und "mal schnell rüber in die Stadt" fahren??? Und Grund zu Todesangst haben sie mindestens so viel.

Eine in Nablus neben etwa Saif (s. S. 54) wichtige ISM-Persönlichkeit ist eine Israelin, die als solche (von ihren Behörden aus) natürlich gar nicht dort sein dürfte, daher mit ihrem kanadischen Pass eben als Ausländerin dort lebt (viele Israelis haben noch eine zweite Nationalität). Ich erwähne dies, weil selbst unter diesen "unmöglichen" Verhältnissen eine Grenzen überwindende Hoffnungs-Arbeit erfolgt. Weil Menschen sich als Menschen, nicht hauptsächlich als Angehörge eines ggf. anderen Volkes sehen. Das sind für mich "Helden", auch wenn sie solche Attribute weit von sich weisen würden.

An dieser Stelle sollte ich die (eine Art Wandzeitung) fast überall in Palästina anzutreffenden Plakate mit "Märtyrern" erwähnen, die oft triumphierend ihr Gewehr hochhalten. (! Was haben sie sonst schon zu "präsentieren"?! Dennoch:) Die Heldenposen befremden. Sind nicht die, die ohne Gewalt der Gewalt Widerstand leisten, die wirklichen Helden?! Oder wie Reuven Moskovitz (s. S. 5 Fn. 2) sagt: ... die aus Feinden Freunde machen! Ich denke, hier gibt es für uns alle viel zu lernen. Aber auch als "Verfechter" der NON-Violance, der Gewaltfreiheit, versuche ich mich wenigstens so weit einzufühlen: Über Jahrzehnte Gedemütigte bzw. in dieser Atmosphäre Aufwachsende werden geradezu hineingedrückt: Auch mal wer sein zu wollen, oder sich an der "Heldenhaftigkeit" von Freunden oder wenigstens Landsleuten zu berauschen, sich daran "auf-zu-richten". Ohne die auch in einigen arabischen Fernsehsendern manchmal stundenlang posierenden oder in ewigen Wiederholungen "vergegenwärtigten" Macho-Gesten zu übersehen: Ich bin überzeugt: Sowohl diese Bilder als auch – obwohl oft das Ortsbild bestimmend – die erwähnten Plakate geben nicht wirklich ein "Bild" ab von der Bevölkerung. Und: Weniger kleingemacht zu werden verringert das Bedürfnis, mal ganz groß zu sein. Übrigens gilt es aber auch bei den Plakaten genau hinzusehen: Viele Plakate zeigen keine Siegerposen späterer Selbstmordattentäter (wobei sie sogar für diese keinesfalls typisch sind! Siehe S.50), sondern einfach Menschen, die bei irgendwelchen Militär-Aktionen ums Leben kamen. Ohne selbst Gewalt angewandt zu haben!

In Nablus‘ Altstadt gibt es herrliche Gewölbe, nicht nur die Hamams oder Teile des Markts. Leider auch ein Gewölbe, in dem Kollaborateure oder der Kollaboration mit Israelis auch nur Verdächtigte gefoltert und z.T. getötet wurden. Gewalt ist so leicht anste-ckend. Es gilt (nicht nur in Palästina!) noch viel mehr zu lernen, andere Wege auszupro-bieren, weiterzugeben, zu verbreiten ... Warum glauben so viele, das hätte etwas mit Feigheit zu tun? Weil sie den Mut dazu nicht aufbringen, das aber (auch vor sich selbst) nicht zugeben können und das von ihnen noch nicht Erreichbare abwerten müssen? Wobei – da capo – ich überzeugt bin, dass sie in Palästina da längst schon viel weiter sind als etwa wir Deutschen. Wie würden wir bei solcher erlittener Gewalt reagieren?!

 

Flüchtlingslager

Die erste große palästinensische Flüchtlingswelle erfolgte im und nach dem Krieg 1948: Mehr als die Hälfte der 1.380.000 Palästinenser wurden im Zuge des zunächst echten Verteidigungs-krieges Israels aus ihrer Heimat, dem neuen Staat, vertrieben oder sind geflohen (teils infolge arabischer Aufrufe, teils unter direktem israelischen Druck, teils in Panik angesichts des Terrors extremistischer jüdischer Organisationen. Während Israel offiziell behauptet, eine Mehrheit der Menschen sei lediglich geflohen, nicht vertrieben worden, erlaubte es den Flüchtlingen nicht, zurückzukehren. Die bereits am 11.12.1948 von der UNO-Gerneralversammlung ergangene UN-Resolution 194 ("... dass den Flüchtlingen, die in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dieses zum frühest möglichen Zeitpunkt gestattet werden sollte") wurde inzwischen über hundertmal bestätigt. Statt dessen verabschiedete die Knesset 1950 das "Law of Return", das allein die jüdische "Rückkehr" aus aller Welt legitimierte, und das "Absentee Property Law", das die "abwesenden" Palästinenser enteignete ...

Ein mir wichtiger Exkurs. Auch die "Weiterungen" sind im Abschnitt Flüchtlingslager vielleicht gar nicht so fehl am Platz, weil wir alle Suchende sind. Auch wenn ich es wiederhole:

Das Recht der Juden auf einen eigenen Staat und damit endlich ein Refugium, eine Zufluchtstätte, besteht angesichts ihres Jahrhunderte langen Leidens in vielen Ländern für mich zweifel-los! Dass auch früher schon besonders viele Pogrome in Deutschland waren und diese Verbrechen dann im 20. Jhd. hier noch so unvorstellbar gesteigert wurden, gibt uns zusätzlich zu denken. Aber ebenso zweifellos ist es ein damit nicht zu entschuldigendes Unrecht, ja auch zum Himmel (!) schreiendes Verbrechen, wenn andere Menschen ent-wurzelt, ent-rechtet , vertrieben oder getötet werden. Es gilt zu unterscheiden, ob bzw. wann Israel eine Zufluchtstätte ist, in die mit oder auch ohne Not Menschen selbst ziehen wollen und sich dort mit den bereits im Lande lebenden Menschen arrangieren müssen – Oder ob auf Kosten der dort lebenden Bevölkerung zur Erfüllung des Traums von Großisrael und ohne Not Menschen in aller Welt massiv angeworben werden und andere verdrängen.


Ich bin "naiv" genug, zu glauben, dass Juden, Muslime, Christen, Hindus, Atheisten ... – trotz aller unserer Schuld – in wesentlichen Aspekten zusammen kommen können, ja zusammen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung verantwortlich sind, also zusammenwirken müssen. Ich "mute" Ihnen meine kleine "Theologie" zu:

Gott kann Menschen, auch einem Volk, die Zusage seiner Fürsorge und einer Heimat geben, und ich glaube auch, dass er es tut (oder sie. Uns fehlen so oft die Worte für die unvorstellbare Kraft und Liebe). Aber mein Gottes-Bild hält es nicht für möglich, dass sie/er es so meint, dass andere (ebenfalls Gottes Kinder !!!) vertrieben werden dürfen, dass wir sie leiden "lassen" dürfen ("lassen" im Sinn von Leid selbst zufügen und i.S. von zulassen).

Ein Geheimnis Gottes (wie ER/SIE/ES auch ist) ist sicherlich, dass sie/er uns allen (!) die volle, ungeteilte Liebe zuteil werden lassen kann! Wenn schon liebevolle Eltern ihre Kinder jeweils "ganz" liebhaben und nicht ihre Liebe "teilen" oder Rangfolgen einführen müssen! "Machen" wir ihn doch nicht kleiner, nicht so un-menschlich und kleinlich, wie wir uns oft verhalten! Unsere Eifer-Sucht, nur das eigene Volk sei gemeint (ob "God’s own country" oder exkusiv (!) "auserwähltes Volk"), tut fromm, ist aber, da bin ich sicher, zutiefst blasphemisch, gotteslästerlich. Das lässt diesen eben nicht unnahbaren, sondern sich um uns alle sorgenden Gott leiden. Er fährt aber (manchmal sind wir versucht zu sagen: leider) meist nicht dazwi-schen und regelt alles selbst, weil er uns allen unsere Würde der eigenen Verantwortung nicht wieder nehmen will. Auch wenn wir unsere eigene Würde, die im Mit-Mensch-Sein ihre Erfül-lung findet, so oft mit Füßen treten. Nein: Ein "fürchterlicher" Gott ist kein Gott!

Von den 300.000 Palästinensern, die nach der Besetzung der Westbank und des Gaza Juni 67 fliehen mussten, waren viele zum zweiten Mal damit geschlagen.

Laut Sonntagsblatt vom 25.5.03: 3,9 Mio registrierte Flüchtlinge. Die zu knappen Mittel werden konzentriert auf die 1,2 Mio Menschen in den 59 UNRWA-Flüchtlingslagern (8 im Gaza mit knapp ½ Mio Bewohnern!!! 19 in der Westbank, je 10 in Jordanien und Syrien und 12 im Libanon.

In Bethlehem gibt es drei der Flüchtlingslager: Wie viele der vielen "Heiliges-Land"-Pilger haben je eines gesehen? "Erbauen" wir uns nur an der süßen Weihnachtsgeschichte? Was verstehen wir von der "eigentlichen" Geschichte? Von der auch heute gültigen Grund-Botschaft? Auch dort! Wer glaubt, dass Gott sich uns in Jesus nicht nur zuwandte, sondern nahe kommen wollte und nahe ist: Jesus kam zu allen, sehr sinn-bildlich aber vor allem zu Entrechteten, Armen, Leidenden. Das will uns bei unserer (halt doch noch mehr) Mensch-Werdung helfen ... (Damit spreche ich niemandem das Mensch-Sein ab!)

In Nablus sind vier Flüchtlingslager: Im Westen das "Flüchtlingslager Nr. 1" mit ca. 3.000 Bewohnern, im Osten Askar I und II mit zusammen 12.000 Bewohnern. Letzteren recht nahe leicht südlich das in der Westbank größte Lager:

Balata mit 18.000 Bewohnern. Balata besteht aus meist 2-stöckigen Schlichtbauten mit Flachdächern (viele genutzt für Hühnerhaltung, Tomatenanbau etc.). Es gibt eine Hauptstraße mit einfachen Geschäften, und verstreut auch sonst einige Läden. Zwischen den Häusern manchmal nicht einmal 50 cm breite Durchschlüpfe. Ganz, ganz viele Kinder und Jugendliche. Die allermeisten versuchen – freundlich – anzubandeln mit ihren einzigen englischen Brocken "What’s your name?" und "How are you". Nur einige wenige betteln, eine Erscheinung, die bei der Not m.E. nicht verwundert; allerdings in diesem Land (im Gegensatz zu vielen anderen Ländern!) ganz neu sein soll. Palästinensern bereitet es jedoch viel Kummer, dass sie inzwischen "so tief gesunken sind".

Die o.g. "Hauptstraße" (!), an der das Titihaus steht, in dem wir uns viel aufhielten, ist im-merhin so breit, dass sich zwei Pkw’s, wenn auch nicht überall, aneinander vorbeidrücken können. Wenn ein Ambulanz-Wagen kommt, heißt es schon rangieren. Und es gibt, eher am südöstlichen Rand, vier, fünf Straßen, durch die Panzer auch sehr schnell kommen können. Das Titihaus liegt insofern, um einen guten Über- und Einblick zu haben, sehr günstig. Das Erdgeschoss wurde von Soldaten bereits unbenützbar gemacht. Im 1. Stock lebt eine Familie. Im oberen, zweiten Stockwerk hat ISM (s. S. 5) die frei gewordene 3-Zi-Wohnung. Ein PC mit Internetanschluss, um Nachrichten auszutauschen, vor allem um aktuell Informationen ins Netz zu stellen. Teambesprechungen. Und in den Räumen ist auch eine Dauerpräsenz von "Internationalen", d.h. dort schlafen (wenn keine Militäraktio-nen den Schlaf rauben) auch immer einige Internationale. Denn das Titihaus ist das gefährdetste Haus in Nablus . Der 18-jährige Sohn hatte als erster Suizid-Attentäter aus Ba-lata Menschen mit in den Tod gerissen und viele weitere verletzt. Seine vorherige Lei-dens-Geschichte sollte man lesen (Anhang Seite 50). Nicht um Attentate zu verteidigen! Aber um doch mehr zu verstehen und sich nicht nur zu entrüsten, dass das halt alles ein-fach Terroristen seien ... "So einfach" ist es dort auf keiner der beiden Seiten!

 

Provokation – Was soll provoziert, also hervorgerufen, heraus-gefordert werden?!

Als wir am 17.5. in Nablus ins Titihaus kamen hörten wir, dass am frühen Morgen ein Jeep bedrohlich "ewig" durch das Flüchtlingslager gekurvt sei, was ja immer auch an fol-gende Fahrzeuge und Verhaftungen denken lässt. Möglicherweise ein Vorbote "richtiger" Militäraktionen.

In der Nacht darauf, "unserer ersten" (ich schlief in jener allerdings in einem anderen Haus, kam morgens dazu) tauchten etwa um 04 Uhr ein schwerer und ein kleiner Panzer und zwei APC auf (ArmouredPersonalCarrier. Etwa: mit Panzerplatten bewehrter Mann-schaftswagen). Fuhren hin und her, blieben mal stehen, mal rückten sie vor und zurück, verschwanden ("Endlich! Endgültig?"), kamen wieder ... Als es hell wurde verstärkte den Lärm etliche Zeit ein Caterpillar-Bulldozer, wie sie zum Häuser-Einreißen verwendet wer-den, vor allem dort, wo die Häuser wie in Flüchtlingslagern so dicht stehen, dass Spren-gungen allzu unberechenbar ausfallen könnten. Nur Drohkulisse?

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Kinder und Jugendliche strömten daraufhin aus den Häusern, warfen mit Steinen (ein befreundeter Priester sagte dazu: Es wäre unnatürlich, wenn da die Jugendlichen nicht entsprechend reagieren würden), trafen hie und da die Fahrzeuge, auch die APC-(Panzerglas)Scheiben. Die Steine können mit Sicherheit nichts "anrichten", dröhnen aber "gewaltig"; in den Fahrzeugen sicher ein ungutes Gefühl. Immer mal wieder einzelne Schüsse von festmontierten und von eigens aus entsprechenden Spalten geschobenen Maschinen- und Schnellfeuergewehren. Dazwischen sog. Soundbombs, hören sich an wie schwere Explosionen: Schüchtern schon ein, weil im ersten Augenblick manchmal nicht klar ist, ob es diesmal "ernst" war. Drei Jugendiche wurden verletzt. Wenn, was ja schon öfters vorkam, ein Kind oder Jugendlicher getötet worden wäre, hätte es mit Sicherheit wieder geheißen, das Militär habe in Notwehr geschossen.

Es ist erschütternd, mitzuerleben, wie hier eine Situation erst geschaffen wird, in der sich dann die Soldaten subjektiv wohl tatsächlich bedroht fühlen. Offenbar wird aber nicht genügend darüber reflektiert. Kein Wunder:

Anscheinend reflektiert die (nicht nur Armee-) Füh-rung genau darauf, solche Situationen zu erzeu-gen. Ein Grund: Palästinenser "müssen" von den Soldaten als bedrohlich erlebt werden, sonst funktioniert die Überwindung der natürlichen Hemmung vor Verletzung oder Tötung nicht.

Ich wage dies zu verallgemeinern, weil die Strategie in Jenin exakt gleich (wenn auch die Reaktion der Bevölkerung anders) war und weil ich glaubwürdig erfuhr, dass dies sehr häufig der Fall ist.

ã (Dieser Panzer nebelte sich mal rot, mal blau ein. Ist die Sorge abwegig, dass da auch gewisse Gifte mit transportiert werden könnten?)

Insofern ähnlich der später in Jenin erlebten Situation (S. 38) wird – nach Stunden – in filmreifer Szene in ein Haus eingedrungen. Ein, wie wir später erfahren, 12-jähriger Junge wird herausgeführt, offenbar festgenommen, er erscheint gesund, wird weggefahren. Am Nachmittag hören wir: Der Junge musste inzwischen in ein Krankenhaus eingeliefert werden7.
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7 In Israel hat das Oberste Gericht etwa 1998 hinsichtlich Folter festgestellt, dass „nur“ noch „angemessene“ (was ist das?) Schmerzzufügung erlaubt ist. Das sind Fortschritte ... (Wieder Kommentar der oben schon zitierten sehr differenzierten jüdischen Freundin, die mir auch mit kritischer Durchsicht sehr geholfen hat: „Kleine, zynische Anmerkung: Das erinnert mich an das deutsche Tierschutzgesetz. Den Tieren hier dürfen auch nur „notwendige“ Schmerzen zugefügt werden. Unter dieser Rechtfertigung existiert die Massentierhaltung ... komische Assoziation, nicht?“)
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Hauszerstörungen (sh. kurz Titihaus S. 28, Hintergründe sh. auch Anhang S. 50)

ISM versucht, jede Nacht die Familien in mehreren gefährdeten Häusern zumindest soweit zu schützen, dass sie von den Soldaten nicht geschlagen werden und dass sie zum Ausräumen ihrer Habe möglichst etwas mehr Zeit gewinnen. Die Zerstörung der Häuser selbst kann, zumal seit der Tötung von Rachel Corrie (S. 2), letztlich nicht verhin-dert werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass z.B. das Titihaus ohne Dauerpräsenz der ISM längst völlig zerstört wäre. Und an Andreas‘ und meinem ersten Abend in Nablus konnten 2 ISM-Freunde ein anderes gefährdetes Haus nicht erreichen: Der Taxifahrer konnte es angeblich nicht finden, obwohl er ein am selben Tag abgereistes ISM-Mitglied vier Wochen lang hingefahren hatte!!! D.h. das Haus war seit langer Zeit zum ersten Mal ohne einen Internationalen – und wurde in jener Nacht gesprengt!

Allen Bewohnern zumindest der gefährdeten Häuser ist klar, dass ISM (S. 5, non-violan-ce!) keinerlei Gewalttaten rechtfertigt. Aber durch die Präsenz wollen wir helfen, wenigstens versuchen zu helfen, dass Menschenrechte eingehalten werden. Wir wollen anprangern, dass bei den Hauszerstörungen meist Sippenhaft angewandt wird. Und wir fordern, dass, wie etwa im Fall eines Mannes, der in eine israelische Siedlung einge-drungen war und zwei Siedler getötet hat, jeder Täter ein Anrecht auf ein rechtsstaat-liches Verfahren hat. Niemand von uns stemmt sich gegen eine rechtsförmige Verurtei-lung von Straftätern! Aber dieses Verfahren schafft zusätzliches Leid und Aggressionen.

Auch wenn Andreas und ich bei diesem Aufenthalt ausschließlich mit Hauszerstörungen als Reaktion auf – wie auch immer – Gewaltakte zu tun hatten: Sie erfolgen ebenso, weil sie z.B. neuen Siedlerstraßen oder derzeit relativ häufig dem sog. Securitywall im Wege stehen. Oder weil sich Siedler, die ja später dort hingebaut hatten, sich angeblich einfach durch die Nähe dieser Bewohner gefährdet sehen ...

Azawiya (auch: Zawiya)

Ich blende zurück: Andreas und ich waren am Mo. 12.5. ins Mas’ha-Camp gegen den Bau der Apartheid-Wall gekommen. Nachts ca. 03Uhr, also am Dienstag frühmorgens, eine – wie sich später herausstellte – ca. 3,5 Km entfernte Detonation in Zawiya, dann ein Feuerschein.

Glaubwürdig wurde uns später gesagt: Israelische Soldaten hatten geklopft und barsch gefordert, dass in 2 Minuten alle Bewohner inklusiv Kinder vor dem Haus sein müssen; dann, dass sie 10 Minuten haben, ihre wichtigsten Sachen herauszuräumen. Aber schon nach drei Minuten (selbst wenn man unterstellt, dass da das Zeitempfinden nicht korrekt funktionieren wird: Jedenfalls vor Ablauf der zugestandenen 10 Min.) der Schrei: Stopp, raus, raus! Und die 6 je 20 kg Dynamit, die zwischenzeitlich routiniert an den tragenden Betonpfeilern des 2-stöckigen Hauses angebracht worden waren, wurden gezündet, das Haus sackte in sich zusammen. Eine geliebte Puppe immerhin konnte ein Kind am Tag darauf unter dem Schutt herausziehen und ans Herz drücken. Andreas und ich fuhren nach etlichen Überlegungen und Beratung mit IWPS am Freitag zu jener Familie, kamen – landestypisch – nur mit allen männlichen Mitgliedern der großen Familie zusammen. Palästinensische Familien bauen, wenn es auch nur einigermaßen geht, Häuser ihrer

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Kinder (zur Miete wohnen ist kaum vorstellbar) ganz nah bei der Ursprungsfamilie. Die Großfamilie gehört zusammen. So kam nun die betroffene Familie schräg daneben im Haus des Bruders provisorisch mit unter. Auch in diesem Haus waren durch die Druckwelle in jener Nacht etliche Fenster geborsten. Wir erfuhren nun von der Familie: Ein Sohn des Hausherrn, eines Lehrers, wollte im Herbst 2002 in Tel-Aviv einen Suizid-anschlag machen. Er sagte hinterher: Als er die Kinder sah, die er dann mit hoher Wahr-scheinlichkeit mit in den Tod gerissen hätte, habe er erkannt, dass er das nicht machen kann. Drehte sich um, hatte sich aber schon verdächtig gemacht, wurde festgenommen, sitzt seither in Haft.

Die Armee sagt, er sei vor der Tatausführung gefasst worden, sie hätten ihn daran gehindert. Ob es nun vom Inhaftierten und seiner Familie eine Schutzbehauptung ist oder ob es sich so verhalten hat, dass er selbst von der Absicht zurückgetreten war: In jedem Rechtsstaat sind solche Feststellungen Sache der Gerichte. Eine Gerichtsverhandlung jedoch war erst für Juni d.J. vorgesehen. Und davor wollte (und durfte!) das Militär (!) vollendete Tatsachen schaffen , seine eigene Bestrafung vornehmen. Ein Rechtsstaat erweist sich – anders als dies etwa die Bush-Administration mit den Gefangenen auf Guantanamo praktiziert – u.a. darin, dass jede/r, auch ein schrecklicher Verbrecher, den Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren hat. Und: Der Vater sagte glaubwürdig, er habe in den wenigen Minuten bis zur Explosion auch darauf hingewiesen, dass dies sein eigenes Haus sei, der Sohn daneben einen Rohbau stehen habe. Wenn schon, dann sollten sie diesen zerstören. Aber "das wäre ihnen offenbar zu wenig Schaden gewesen". Das Militär eines Volkes, das neben anderem eigentlich unvorstellbarem Unrecht auch unterSippenhaft hatte grauenvoll leiden müssen, begeht seit Jahrzehnten ungestraft nun seinerseits Sippenhaft. Auch dies ein Verstoß gegen elementare Grundregeln. Dass das Militär auch massiv gegen die Genfer Konvention zur Kriegsführung verstößt (Wo auch nur einigermaßen vermeidbar: keine Unbeteiligten schädigen! Zivilisten schützen!...), erscheint dabei schon fast als Marginalie.

Noch etwas hinsichtlich Sippenhaft (abgesehen vom Rechtlichen): Die Familien haben viel stärker noch als bei uns einen tragfähigen Zusammenhalt. Ich kann nicht ausschließen, dass es einige Male auch eine Schutzbehauptung sein wird, wenn Familien sagen, sie hätten von den Suizidanschlägen ihrer Kinder nichts gewusst. Aber ich glaube es tatsächlich, dass zumindest weit häufiger die Familien selbst überrascht wurden, weil die Betroffenen es in sich und vielleicht mit Freunden "abgemacht" haben, sich aber ohne Konsultation mit den Eltern etc. zu diesem letzten Schritt durchrangen. Die Familien haben, ohne dass das Leid der Opfer und damit auch von deren Familienangehörigen relativiert werden soll und darf, auch ihrerseits den Verlust eines Familienmitglieds zu beklagen! Hier mit allen, ob sie angebracht sind oder nicht, bei Suizid besonders verbreiteten Selbstvorwürfen etc. Warum sollte dies im Nahen Osten völlig anders sein?

Es schien uns glaubwürdig, dass die von uns hier kennen gelernten Familienangehörigen wie viele der anderen Palästinenser auch israelische Freunde haben. Dass sie nicht ge-gen "die" Israelis oder Juden agitieren, wenn auch hier eine tiefe Bitterkeit zu erkennen war. Wir brachten etwas Spielzeug und eine Kerze mit der doppelten Aufschrift salam und shalom in arabischer und hebräischer Schrift mit 8. Trotz des so nachvollziehbaren Schmerzes konnten sie sie gut annehmen, mussten sie nicht als Provokation o.ä. ableh-nen. Wie wäre es uns ergangen, wenn wir, was ich mir ebenso hätte vorstellen können, zu Opfern palästinensischer Gewalt gegangen wären? Wobei natürlich Verallgemeinerungen gefährlich wären.
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8 hergestellt übrigens von einer Familie in Haar bei München zugunsten einer Behinderteneinrichtung in Jerusalem für jüdisch- und arabisch-israelische Kinder ...
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Keine Gesellschaft und kein Mensch ist vollkommen. Wenn das Unrecht aber "System hat" und gar nicht der Versuch unternommen wird, das Recht "hochzuhalten", ist jedes Herunterschauen auf andere ("Die Araber sind zur Demokratie gar nicht fähig") scheinheilig. Und wo tatsächlich Defizite vorhanden sind:

Wie sollen Gesellschaften zu rechtsstaatlichen Strukturen und Menschen zu rechtmäßigem Verhalten hingeführt, sie dafür gewonnen werden, wenn von denen, die das fordern, derart anhaltend und eklatant dagegen verstoßen wird?

Im Haus in Zawiya sahen wir abgesehen von Bettgestell, Kücheneinrichtung etc. einen Computer unter den Betonplatten eingequetscht. Also einen (gerade auch dort) erheblichen Wertgegenstand. Nicht mal diesen zu bergen war ihnen noch vergönnt.

Im Khilfe-Haus, wie wir es nannten, in Nablus lebte neben Familien in den höheren Stockwerken bis zum 20.5.03 im Erdgeschoss Frau Khilfe, eine einfache, strenggläubige, traditionell gekleidete, dabei keineswegs fundamentalistisch enge, sondern liebenswert offene Muslimin, zusammen mit den ihr verbliebenen nun 22- und 15-jährigen Söhnen und der 12-jährigen Tochter.

Im Frühjahr 2002 hatte das Militär curfew, eine schließlich fast vierwöchige Ausgangssperre verhängt. Bei diesen ist den vielen Betroffenen nicht bekannt, wann sie wieder aufgehoben werden wird, ob sie vielleicht mal nach 10 Tagen für 3 Stunden für Einkäufe, Arztbesuch etc. unterbrochen wird. Im Haus eingesperrt sein. Wann kann man wieder Lebensmittel einkaufen? Ggf. hungern. Damals war auch die Stromversorgung ausgefallen (Lebensmittel im Kühlschrank verdarben) und das Wasser war noch unzuverlässiger aus dem Hahn gekommen ... Ausgangssperre kann lebensbedrohlich sein. Nach Aufhebung der Sperre – und hatte sich in ihm vielleicht schon vorher etliches angestaut? – fuhr der 18-jährige Sohn nach Tel Aviv und brachte sich und zwei Israelis um. Mutter und Geschwister lebten, abgesehen vom Verlust des Sohnes/Bruders, seither in ständiger Angst, dass ihnen ihr Heim zerstört wird. ISM-Leute wechselten sich ab, schliefen dort, um sie in ihrer Not nicht völlig alleine zu lassen (was gärt da in den weiteren Kindern womöglich und drängt irgendwann auch zur Entladung?!). Und um ihnen im Falle des Falles so weit möglich zu helfen. In der Nacht 18./19.5.schlief Andreas dort, 19./20.5. ich, 20./21. wieder Andreas. In seiner zweiten Nacht geschah das lange Befürchtete. Lesen Sie bitte trotz einzelner Verdoppelungen direkt, was Andreas damals aktuell vermailt hatte:

"I lost my house yesterday

(von Andreas Bock, München - z.Zt. in Nablus im besetzten Palästina)

Das Khilfehaus ist ein Begriff bei jedem meeting des "International Solidarity Movement" (ISM) in Nablus, wenn es drum geht, die Schlafplaetze zu verteilen. Die Schlafplaetze befinden sich in Haeusern, deren Zerstoerung durch das israelische Militaer droht. Es sind die Wohnungen palästinensischer Familien. Die Sprengung dieser Haeuser koennen wir, die internationalen AktivistInnen, nicht verhindern, aber wir können die Familien durch unsere Präsenz vor Repressalien schuetzen. "Wir", das sind AktivistInnen des ISM aus den USA, Daenemark, Australien, Kanada und unsere palaestinensischen Freunde. Wir alle sind dem Prinzip der Gewaltfreiheit verpflichtet. Ich und mein Partner Guenter - er befindet sich zur Zeit in Jenin - kommen aus Muenchen.

"Mein Haus" vorletzte Nacht war das Khilfehaus, das Zuhause der Familie Khilfe, einer wunderbaren Familie: die Mutter, zwei Soehne und eine Tochter. Das Haus liegt an einer Strasse oberhalb von Nablus, an einem Hang mit herrlicher Aussicht. Die Stadt, mit ihrem tausend Jahre alten Kern mit dem lebhaften Bazar, umringt von Bergen, die zum Wandern einladen, waere fuer mich ein idealer Urlaubsort. Doch die Huegel sind vom israelischen Militaer besetzt, und taeglich dringen Militärjeeps, Panzer, Bulldozer und gepanzerte Fahrzeuge in die Stadt ein. An ein normales Leben ist nicht zu denken, geschweige denn an Urlaub.

Kaum aus dem Taxi gestiegen, werde ich von Abarusch, dem juengsten Sohn, schon von weitem mit der Einladung empfangen, heute Abend mit ihm Schach zu spielen. Die Mutter steht lächelnd in der Tuer, ihre Augen heißen mich freundlich willkommen.

Nach meinem Debakel im Schachspiel tischt sie das Essen auf, Safranreis und Tomaten mit Lammfleisch, angerichtet in einer köstlichen Sauce. Abarusch, ein sehr lebhafter Junge, macht seine Spaesse mit mir, sein Bruder zappt die Kanaele der arabischen Satellitenprogramme durch, die Tochter bereitet sich, laut lernend, auf den Unterricht am naechsten Tag vor. Die Mutter ist der ruhende Pol; bei aller Zurückhaltung erzaehlen ihre Augen ihre Tragoedie. Ich habe ein Bild meiner Familie bei mir, zeige es ihr, alle sind begierig, es auch anzusehen. Ein Foto mit drei blonden Frauen - ich habe zwei Toechter - ist hier der absolute Hit. Schlafenszeit. Mutter und Tochter und der Juengste ziehen sich in ihren Schlafraum zurueck. Auch ich lege mich schlafen, der aeltere Sohn zappt vom Bett aus weiter.

Nach etwa einer Stunde Schlaf (mehr wird es nicht sein diese Nacht), werde ich mit dem Wort "djeish" geweckt, dem Schreckenswort, denn es bedeutet "Armee". Vom Fenster aus sehen wir zwei Militaerjeeps und ein Ungetuem, wie ich es noch nie gesehen habe, eine Art gepanzerter Laster mit einem Aufbau, der mich an ein mittelalterliches Gerät zur Stuermung einer Festung erinnert. Dunkle Gestalten huschen umher.

Wir sammeln uns im Schlafraum der Frauen. In dieser Situation gibt es keine Tabus mehr. Wir verständigen uns ohne Worte. Die Rollen sind verteilt. Mir wird klar, ich habe nicht nur die Rolle des "Internationalen" sondern auch die des fehlenden Vaters.

Lautes Schlagen an die metallene Eingangstuer, Rufe auf Habraeisch. "I am an international, I am a peaceful man, I’ll open the door", rufe ich laut zurück. Ich oeffne. Ein greller Lichtstrahl, Gewehrlaeufe sind auf mich gerichtet. Ich mache den Soldaten klar, dass ich ihre Sprache nicht spreche. Daraufhin heisst es auf Englisch: "Get out, get out, the whole family, get out!". Meine Fragen nach dem Grund bleiben unbeantwortet, mein schlechtes Englisch wird in der Aufregung immer schlechter, ich versuche trotzdem mehr zu erfahren. Ich stelle mich zu den Soldaten, hinter meinem Ruecken verlaesst die Famile das Haus. "You ", heißt es dann, und damit bin ich gemeint, "move, over there." - "I stay with the family." Die Gewehrlaeufe zeigen mir den Weg - den ich nicht gehe. Ich muss bei der Familie bleiben. Wir haben Glueck. Die verwandten Familien aus dem hintern Teil und der oberen Etage des Hauses treffen ein und lenken die Aufmerksamkeit der Soldaten ab. Befehle werden gebrüllt, die Gewehre sind staendig auf uns gerichtet, während wir auf die Strasse gehen und sie überqueren. Auf der anderen Seite müssen wir uns an einer niedrigen Mauer niederknien. Wie sollen sich alte Menschen niederknien? Gewehrlaeufe erzwingen die schmerzvolle und erniedrigende Haltung. Ich kniee vor ihnen. Durch mein zoegerliches Verhalten und meine staendigen Nachfragen schlage ich etwas Zeit heraus, "beschäftige" die Soldaten, und es gelingt mir so, die Lage immer wieder etwas zu entspannen. Mittlerweile sind alle Hausbewohner an der Mauer versammelt: 8 Maenner, 6 Frauen, darunter eine schwangere, drei Kinder und ein Baby.

Endlich, nach langwierigen Diskussionen mit den Soldaten werden Stuehle herbeischafft. Endlich wird auch mir mitgeteilt, das Haus werde jetzt durchsucht, dann koennten die Habseligkeiten der Familie heraus geholt werden. Die Sprengung werde vorbereitet, und zwar nur die der Wohnung "meiner Familie". Die Situation wird unertraeglich. Zu viel fuer die schwangere Frau. Sie muss sich erbrechen und klagt ueber starke Schmerzen im Unterleib. Wir rufen nach einem Arzt und einer Ambulance. Ein Soldat erklaert, er habe eine medizinische Ausbildung, Er fuehlt den Puls der Schwangeren. Mir platzt der Kragen, ich vermute, er habe wohl nur eine Ausbildung fuer den Kriegsfall, wir bräuchten unbedingt einen Arzt. Er wird aergerlich, geht aber doch zu seinem Vorgesetzten, die Aufregung waechst. Endlich wird eine Ambulanz gerufen. Sie trifft nach 20 Minuten ein und nimmt die Schwangere, begleitet von drei weiteren Frauen, mit.

Nach einer Stunde Hausdurchsuchung dürfen die Sachen aus der Wohnung geholt werden. Vier Maenner und zehn Minuten Zeit. Meinen Rucksack und meine Fotoausruestung kann ich erst nach Vorzeigen meines Presseausweises holen.

In dieser Nacht fuehle ich mich zum ersten Mal vollkommen hilflos, machtlos gegenueber einer Besatzungsarmee, die durch kein Recht legitimiert einen Akt der Kollektivbestrafung vornimmt.

Die Vorbereitung der Sprengung dauert ueber zwei Stunden. Mit Bohrmaschinen werden Loecher fuer die Sprengkapseln gemacht. Das einzige was wir erreichen, ist dass wir Wasser bekommen. Ein Kind hat Fieber. Fuer mich unvorstellbar, die Ambulanz kommt mit den vier Frauen zurueck. Sie wollen nicht von ihrer Familie getrennt werden, egal was passiert.

Um vier Uhr früh werden wir aufgefordert, den Platz an der Mauer zu verlassen und die Strasse hinunterzugehen. Das Unvorstellbare passiert. Ein dumpfer Knall. Die Wohnung, in der ich heute Nacht geschlafen habe, ist vernichtet.

Das Militaer zieht ab. Nur zoegerlich nähern wir uns den Trümmern. Die vordere Hälfte des Erdgeschosses ist voellig zerstoert. Ein riesiges Loch klafft dort. Die Innenwaende, wenn sie nicht zerstoert sind, zeigen grosse Loecher. Die metallenen Balkontueren an der seitlichen Hauswand wurden durch die Explosion herausgeschleudert und liegen jetzt mitten auf der Strasse. Im oberen Teil des Hauses sind beträchtliche Risse in der Wand. Das gesamte Gebäude hat sich ca. 10 Zentimeter nach vorne geneigt.

Kein Klagen, kein Weinen, keine Schreie. Die Familie nimmt stumm das Resultat dieser Nacht in Augenschein. Ich habe hier in keinem Moment Hass oder Wut verspuert. Hier werden keine Widerstandsnester oder Bombenbaumanufakturen zerstoert. Dies sind Angriffe auf die Menschen in Nablus, die nichts anderes wollen, als in Frieden zu leben. Menschen, deren Widerstand darin besteht, das Zerstörte wieder aufzubauen, weiterzuleben, das Leben zu ermöglichen. Es sind die Wohnungen der Mütter, die ihre Kinder morgen trotzdem wieder zur Schule schicken, der Väter, die versuchen, trotz der Checkpoints ihrer Arbeit nachzugehen und ihre Familien zu ernähren.

Davon schweigen unsere Medien. Unsere Regierungen schweigen. Unser Schweigen macht uns zu Komplizen.

IPGA15

... Kein Weinen, keine Schreie ... hier wurde kein Widerstandsnest zerstört ...

In dieser Nacht wurde ein weiteres Haus zerstoert. Dort war kein "International". Die Bewohner wurden von Soldaten geschlagen. Die Mutter der dortigen Familie kann keine Treppe mehr besteigen."

 

Andreas hatte den Eindruck, Frau Khilfe sei in jener Nacht um Jahrzehnte gealtert. Der 15-jährige Sohn ist hochintelligent, an allem interessiert, dabei hyperaktiv. Der Ältere zappte auch in "meiner" Nacht "ewig" im Fernsehen herum, wirkte auf mich leer. Oder kochte da etwas hoch? Was bewirkte das Warten? Was bewirkt das Erleben?

Was wird in den Söhnen und der Tochter seither vor sich gehen?

Die Sprengvorbereitungen hatten viel länger als in vielen anderen Häusern gedauert, weil sie hier nicht einfach das gesamte Haus zerstörten, also z.B. nicht die tragenden Mauern mit Sprengsätzen bestückten, sondern "sorgfältig" die anderen Mauern und damit die ganze Inneneinrichtung demolierten. Dennoch klafft ein Riss im Haus, so dass fraglich ist, ob die Familien in den oberen Stockwerken, die dann wieder hinein durften, nicht noch durch einen Einsturz des Hauses massiv gefährdet sind.

Im anderen in der selben Nacht (jenes: völlig) zerstörten Haus wurden die Menschen geschlagen. Vielleicht waren es dort noch rauere Soldaten, wahrscheinlich aber konnte Andreas der Khilfe-Familie wenigstens dies ersparen. Und wir denken, es bedeutet bei all unserer faktischen Hilflosigkeit doch noch einen kleinen, aber wichtigen Unterschied, ob solche Menschen in Ihrer Not ganz alleingelassen sind – oder nicht. Und schließlich: Wir hoffen, dass unsere mündlichen und dieser schriftliche Bericht zusammen mit vielen anderen Impulsen beitragen, dass mehr Menschen sich für die weltweite Gültigkeit von Menschenrechten einsetzen.

 

iPGA16Jenin
(Auch "Dschenin")

Das Militär hatte dort im April 2002 mitten im Flüchtlings-lager auf angeblicher Terroristenjagd eine Fläche von ca.130 x 130 m mit Kampf-hubschraubern und Panzerbe-schuss total zerstört. Auf die-ser ehedem wie in Balata (S. 26) dicht bebauten Fläche steht noch ein mühsam wieder instandgesetztes einziges Haus. "IDF" ("Israelian Defense Force". Defense?9) ließ damals über mehrere Tage weder internationale Hilfsorganisa-tionen noch Presse hinein, verwahrte sich aber vehement gegen den Begriff Massaker, den – m.E. verständlicherweise – Palästinenser gebrauchten (Anmesty International ent-sandte eine Untersuchungskommission mit Pathologen und einem Fernsehteam und äußerte sich dahingehend, im strengen Wortsinn habe kein "Massaker" – lt. Duden Gemetzel – stattgefunden. Aber auch nach jenem Bericht wurden sehr wohl Menschen von hinten erschossen!). Zwei Ärzte erzählten mir dort, es sei grauenvoll gewesen.
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9 Auch wir sitzen im Glashaus: Entgegen dem eindeutigen Art. 87 a GG „verteidigen” wir uns auch „am Hindukusch” und an vielen Stellen, wo es unsere (insbes. Wirtschafts-)Interessen „verlangen”...
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Die aufgerissene, inzwischen weitgehend geräumte Fläche ließ mir immer noch den Atem stocken. Und zerstörte Häuser fand ich etliche auch in den übrigen Teilen des Lagers ... Auch einen Mitarbeiter von MSF (Medecins sans frontières, Ärzte ohne Grenzen), die sich mit viel zu schwachen Kräften bemühen, hier insbesondere die psychischen Schäden bei Kindern zu mindern. An Therapien wagen sie nicht zu denken. Tropfen auf unerträglich heiße Steine. Und doch: Wie wichtig für die einzelnen Kinder und ihre Zukunft ... Auch für die israelischer Kinder! 10 Und unsere gemeinsamen Welt!
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10 Ganz wichtige Arbeit macht auch diesbezüglich insbes. das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Aquinostr. 7-11, 50670 Köln, Tel. 0221/97269-20 u. -30, grundrechtekomitee@t-online.de : Gemeinsame Ferienaufenthalte seit vielen Jahren für bosnische, serbische und kroatische Kinder und Jugendliche, und seit 2002 auch für israelische und palästinensische! Das ist Prävention!
Volksbank Odenwald BLZ 50863513, Kto. 8013055, Verwendungszweck Ferienpatenschaften. Helfen wir, dass es viele, viele, viele Tropfen sind ...
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Am 23.5. ca. 02.45Uhr in Jenin, in der Stadt, diesmal nicht im Flüchtlingscamp: Aus garantiert jedem Schlaf aufrüttelnde, anschwellende Motorengeräusche. Es stellte sich schließlich heraus, dass vier schwere Panzer und einige APC’s (gepanzerte Mann-schaftswagen) kreuz und quer durch die Stadt fuhren, mal die ohnehin wuchtigen Motoren besonders aufdrehten (infernalisch ist wohl das richtige Wort), mal ebenfalls ohne erkenntlichen Grund stehen blieben, sogar zwischendrin kurzzeitig die Motoren abschalteten. Auch in Jenin war ich zufälligerweise in einem Haus mit einem etwas höheren, besonders gute Übersicht bietenden Flachdach. Mal rückten sie ein paar Meter vor, wieder zurück, mal drehten die schweren Panzer auf der Stelle und dann wieder zurück (Die Ketten hatten dabei, sah ich dann morgens, jedes mal noch weitere Stücke der bereits vielfach malträtierten Straßendecke aufgerissen). Zwei Apache-Kampfhub-schrauber kamen dazu, es dröhnte und vibrierte alles nochmals gesteigert. Zwischendrin, etwa 2 Stunden vergangen, waren mal alle Fahrzeuge gerade ruhig oder weiter weg – da war ein Gockel zu hören. Idylle und Brutalität stoßen hart aufeinander, ähnlich wie im Friedenscamp. Während der ganzen Zeit nicht ein Licht in den Fenstern: Spätere Gespräche mit einigen Menschen bestätigten indirekt: Es ist Angst. Gewiss schaut kaum mehr ein Palästinenser wie wir zum Fenster oder vom Dach herunter, dazu müssen sie es zu oft erleben. Aber an Schlafen ist auch für sie nicht zu denken.

Es ist dann hell geworden. In Kriegsfilm/Häuserkampf-Manier mit gegenseitiger Siche-rung, hektischen Stellungswechseln etc. drangen Soldaten schließlich, für mich nicht sichtbar, anscheinend in ein Haus ein. Ein Mann mit Tuch über dem Kopf wurde abge-führt, in den APC. Das hätten sie ohne Terrorisierung der Stadt ganz gewiss schneller haben können. Sie standen dann noch lange vor dem Haus. Irgendwann fuhr der Mann-schaftswagen mit dem Festgenommenen nach Westen weg.

Drei Zivil-Fahrzeuge tasteten sich von Südost erkennbar vorsichtig an eine Straßenecke heran (Ich fragte mich, was sie tun, wenn sie den seit einiger Zeit ruhigen Panzer dann sehen). Sie stießen zurück. Versuchten sie es noch an anderer Stelle? Später fragte ich in jenem Haus. Der Vater des Festgenommenen zuckte hilflos mit den Achseln; es schien mir glaubhaft, dass er nicht wusste, warum sein Sohn festgenommen worden war.

Wenn Angst das Ziel solcher Militäroperationen ist: Könnte sie potentielle Attentäter ab-schrecken? Oder wird damit nicht eher und zwar durchaus bewusst "vorgesorgt", dass dann wieder "Verteidigungs- und Vergeltungsaktionen" nötig werden? Relativ am Anfang des Spektakels waren einige Leuchtspurgeschosse und andere Schüsse aus größerer Entfernung zu sehen und zu hören. Es wirkte auf mich wie die hilflosen Steinwürfe im kinderreichen Flüchtlingslager Balata, die die eigene "Aktionsfähigkeit", ja "Mächtigkeit" sich wenigstens vorgaukeln. Nur war es in Jenin bis auf diese wenigen akustischen und optischen Protestkundgebungen – von Seiten der Palästinenser – absolut ruhig.

"Blinde Wut" oder ähnliches? Am ehesten von Kindern/Jugendlichen in Balata, aber auch hauptsächlich in der Situation, nicht zwischendrin. Ansonsten habe ich immer wieder sehr viel Resignation und Verzweiflung erlebt. Mehr als Wut, nämlich Hass (dieser will töten, und manchmal tut er es auch) ballt sich in ganz kleinen, dann hoch gefährlichen Gruppen. Darum herum gibt es Menschen, die hegen Sympathien für sie, aus ihnen können auch immer wieder neue Hass-Täter rekrutiert werden. Es gilt also, den Tätern nicht immer wieder Menschen zuzutreiben ...

In Jenin, das wurde mir dort glaubwürdig berichtet, wurde festgestellt, dass das Trinkwasser der Stadt vergiftet wurde. Man versuchte die Ursache bzw. die Schadens-region einzugrenzen, kam auf eine Wassergewinnungsstelle! Die palästinensische Gesundheitsbehörde wird aber gehindert, das von israelischem Militär besetzte Areal zu prüfen. Natürlich ist der Verdacht ungeheuerlich, aber wenn es einigermaßen "mit rechten Dingen" zuginge, wäre doch auch das Militär daran interessiert, die Ursache aufzuklären.

weiter im Text (dritter und letzter Teil)