Ingrid Pfanzelt (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs - IPPNW), Rede auf der Kundgebung auf dem Münchner Münchner Marienplatz am 6. August 2020

Liebe Münchnerinnen und Münchner, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!

Ich heiße Ingrid Pfanzelt und bin hier in München niedergelassen als Ärztin für psychotherapeutische Medizin und Homöopathie. Hier stehe ich als Mitglied der internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War)
Unsere Organisation wurde in der Phase des kalten Krieges 1980 gegründet mit dem Ziel, Schaden von der Menschheit abzuwenden, indem wir über die medizinischen Folgen eines Atomkrieges informieren, denn als Ärzte wissen wir um die verheerende Wirkung der Radioaktivität auf den Körper.

Und als IPPNW-Ärzte versuchen wir, unsere ethische Grundhaltung in politische Entscheidungsprozesse einfliessen zu lassen. Unser aller Bestreben sollte sein, den Menschen nicht zu schaden sondern zur Gesundheit zu verhelfen. Deshalb vernetzen wir uns als IPPNW – Organisation weltweit und suchen den Kontakt zur Politik. Dafür bekamen wir 1985 den Friedennobelpreis.

Aktuell sind Ärzte gefordert, um Gefahr von Menschen abzuwenden und eine gefährliche Pandemie in Schach zu halten. Wer hätte jemals mit solch einem Szenario gerechnet, das mittlerweile zu unserem Alltag gehört: Bilder von überquellenden Krankenhäusern, Lastwägen mit Särgen beladen, Menschen ohne Arbeit, die um Essen anstehen, leere Flughäfen und Shoppingmalls, Gesichtsmasken und sozialer Abstand.

Die Pandemie kam vollkommen unerwartet über uns. Wir in Deutschland können uns glücklich schätzen, daß sich durch gutes Regierungshandeln und ein funktionierendes Gesundheitssystem bisher die Opferzahlen in Grenzen halten. Wir scheinen die Gefahr für den Moment gebannt zu haben, weltweit sind aber Gesundheit und Leben von Milliarden Menschen weiter bedroht.

Das Corona–Virus hat niemand in seiner Gefährlichkeit vorausgesehen. Man könnte es als Naturkatastrophe bezeichnen, die über die Welt hereingebrochen ist. Einer menschengemachten Katastrophe gedenken wir heute.

Heute jährt sich der erste Abwurf einer Atombombe zum 75. Mal.

Am 6. und 9. August 1945 warfen die USA nukleare Bomben mit den niedlichen Namen „ Little Boy“ und „ Fat Man“ auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Mehr als 200 000 Menschen wurden durch diese Angriffe getötet, Zehntausende starben an den Spätfolgen ihrer Verbrennungen, Verletzungen und der Radioaktivität. Die Umwelt mitsamt Tieren, Pflanzen und Meeresleben wurde zerstört und für sehr lange Zeit radioaktiv verseucht. Bis heute leiden die Menschen unter den Folgen der radioaktiven Verstrahlung, sogar deren Kinder zeigen noch Symptome der Strahlenkrankheit. Der Radioaktivität einer Atombombe entkam niemand: je nach Stärke der Strahlung starben die Menschen gleich an Verbrennungen oder verglühten im Fieberdelir, sie litten unter rasenden Kopfschmerzen, Durchfällen, inneren Blutungen und neurologischen Ausfällen, Leukämie und Krebs der verschieden Organsysteme. Missbildungen und Fehlgeburten treten bis heute auf. In Japan werden die Strahlenopfer „ Hibakusha“ genannt. Sie sind es, die immer noch mahnend ihre Stimme gegen den zivilen und kriegerischen Einsatz atomarer Kräfte erheben als lebende Zeugen einer menschengemachten Verheerung.

Auch in diesem Jahr wird weltweit an die Opfer erinnert, denn die Bedrohung mit Atomwaffen besteht weiter. Gerade in Regionen, in denen sich Atomwaffenstaaten gegenüberstehen, herrscht die größte Gefahr für den Weltfrieden. Die Beispiele kennen wir alle: die Konfrontation Russland – USA, das atomare Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan, den Stellvertreterkrieg in Syrien, den Dauerkonflikt zwischen Nordkorea und USA. Obwohl die Anzahl der Nuklearwaffen weltweit seit Ende des kalten Krieges gesunken ist, steigt das Risiko ihres Einsatzes - ob absichtlich oder versehentlich.
Absichtlich führten Russland und die USA die Welt in der Kubakrise an den Rand eines Atomkrieges.

Unabsichtlich herbeigeführte atomare Zwischenfälle gibt es aber weit mehr. Meistens reagiert US- amerikanisches oder russisches Führungspersonal auf einen Fehlalarm, der durch eine Fehlfunktion der Warnsysteme oder durch die falsche Interpretation von Ereignissen ausgelöst wird.

Dann müssen führende Militärs innerhalb von Minuten entscheiden, ob ein nuklearer „Vergeltungsschlag" zu befehlen ist, bevor die eigenen Atomwaffen vernichtet werden könnten.

Die wenigsten Fehlalarme kommen an die Öffentlichkeit. Einer der spektakulärsten ereignete sich in Moskau am 26. September 1983, kurz nach Mitternacht: Ein sowjetischer Frühwarnsatellit meldete den Angriff einer Handvoll US-Raketen auf die Sowjetunion. Sonne, Satellit und US-Raketenfelder waren so aufeinander ausgerichtet, dass die Strahlen der Sonne von den Satelliten falsch identifiziert wurden. Glücklicherweise entschied sich der sowjetische Oberst Stanislaw Petrow den Alarm nicht an seine Vorgesetzten weiterzuleiten, weil er es als seltsam erachtete, nur mit fünf statt mit 500 Raketen angegriffen zu werden.

Der jüngste Fehlalarm fand im Januar 2018 statt, als den Bürgern von Hawai ein atomarer Angriff aus Nordkorea angekündigt wurde. Ganze 38 Min lang dauerte der Alarm, nur durch Zufall wurde kein Gegenschlag veranlasst.

Unabsichtlich herbeigeführte Vorfälle mit Atomwaffen können aber auch ohne Fehlalarm passieren. In Großbritannien sind von 1960 bis 1991 20 nukleare Unfälle dokumentiert. Bei den Unglücken handelt es sich um Fälle, bei denen Atomwaffen aus größerer Höhe herunterfielen oder ihre Zugmaschine in Verkehrsunfälle verwickelt waren. In einigen Fällen kollidierten Atomwaffen miteinander und in einem Fall rutschte ein LKW mit Atomwaffen an einem Hügel ab und überschlug sich. Aus der Liste geht hervor, dass LKWs mit Atomwaffen in zwei Fällen auf britischen Straßen umkippten und zwei Nuklearkonvois in schwere Autounfälle verwickelt waren.

Aus den USA sind über den Zeitraum von 1959 bis 1973 1250 Vorfälle mit US – Atomwaffen bekannt.

Wenn man sich diese Zahl von nuklearen Fehlalarmen und Unfällen vor Augen hält kommt man nicht umhin einem Weltengeist zu danken, daß er bisher anscheinend trotz aller menschlicher Unvernunft die Hand über uns gehalten hat.

Denn eine Beinahe – Katastrophe kann jederzeit zur echten werden.

Trotzdem wird die Politik der nuklearen Abschreckung noch immer als Garant des Friedens propagiert, da sie angeblich den Feind von einem Erstangriff abhält. Derzeit modernisieren alle Atomwaffenstaaten ihre Nuklearwaffen mit dem Ziel, einen atomaren Erstschlag ohne Gegenreaktion möglich zu machen. Die USA nennen ihre neuen Waffen sogar liebevoll „ mini- nukes“. Damit schraubt sich die atomare Rüstungsspirale immer höher mit unermesslichen Kosten und Folgen für uns alle. Die neun Atomwaffenstaaten besitzen fast 15000 Nuklearwaffen (davon 6800 die USA, 7000 Russland). 1800 werden in Alarmbereitschaft gehalten, übrigens 20 davon in Büchel in Deutschland. Der Bundestag hatte bereits vor 10 Jahren deren Abzug verlangt, unser US – Nato – Partner ignorierte bisher dieses Votum. Nun sollen sogar diejenigen Kampfjets auf Kosten des Bundeshaushaltes modernisiert werden, um diese Atombomben von deutschem Boden aus im Ernstfall transportieren zu können. Dafür werden 12,5 Milliarden Euro nötig sein – könnte man dieses Geld nicht sinnvoller einsetzen, um die Folgen der Corona–Krise zu bewältigen?

Der nuklearen Logik wollen immer weniger Menschen folgen. Weltweit gibt es eine starke Gegenbewegung. Große Teile der Weltbevölkerung und die Nichtatomwaffenstaaten sind sich der katastrophalen humanitären Folgen von Atomwaffen bewusst und wollen sich die Drohung mit Atomwaffen nicht länger bieten lassen. Aufgrund einer Kampagne von ICAN, einer Partnerorganisation der IPPNW , beschlossen 122 Staaten einen UN-Vertrag zum Atomwaffenverbot. Er untersagt unter anderem den Besitz, die Stationierung und die Drohung mit Atomwaffen. Das Abkommen tritt in Kraft, sobald 50 Staaten ratifiziert haben. Bis Januar 2020 haben 80 Staaten unterschrieben und 34 ratifiziert. Alle 9 Atomwaffenstaaten, alle NATO-Mitglieder und selbst Japan, das solch eine traumatische Erfahrung mit dem Einsatz von Atomwaffen hat, stimmten gegen den Vertrag.
ICAN bekam für diese Kampagne zum Atomwaffenverbot 2017 den Nobelpreis. Bei der Verleihung hielt eine Hibakusha in Oslo eine Dankesrede, aus der ich abschliessend zitieren möchte:
“Neun Nationen drohen noch immer damit, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, das Leben auf der Erde zu zerstören und unsere schöne Welt für zukünftige Generationen unbewohnbar zu machen. Die Entwicklung von Kernwaffen bedeutet nicht den Aufstieg eines Landes zu Größe, sondern seinen Abstieg in die dunkelsten Tiefen der Verderbnis. Diese Waffen sind kein notwendiges Übel, sie sind das ultimative Übel… Nachdem ich die Menschheit in ihrer schlimmsten Form erlebt hatte, erlebte ich am Tag des UN-Atomwaffenverbots die Menschheit in ihrer besten. Wir Überlebenden haben 72 Jahre auf dieses Verbot gewartet und wir hoffen, dass dies der Anfang vom Ende der Atomwaffen sein wird.“

Die Bundesregierung boykottiert den Atomwaffenverbotsvertrag bis heute. Außerdem beharrt sie auf der Stationierung der Atombomben in Büchel. Damit unterstützt sie die immer gefährlicher werdende Politik der Atomwaffenstaaten. Und sie stellt sich gegen die Mehrheit der Staaten und der eigenen Bevölkerung, die keine Atomwaffen möchten. Mehr als 2/3 aller Bundesbürger sind für den Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel und den Beitritt zum internationalen Atomwaffenverbot.

Wenn Sie sich dieser Meinung anschliessen wollen tragen Sie sich bitte in die ausliegende Unterschriftenliste ein.

Heute gedenken wir des Grauens von Hiroshima. Wir Ärzte konnten es nicht verhindern. Wir können unser Bestes geben, um kranken Menschen in einer Pandemie zu helfen. In einer atomaren Katastrophe ist die ärztliche Kunst sinnlos.

Dann werden wir Ärzte Euch nicht helfen können.